Amram war schreckensbleich. Welchen Preis würde sie für ein derart unerbetenes – wenn auch bitter notwendiges – Einschreiten fordern?
Rasmia war bestürzt über seine kühle Reaktion, verfolgte ihr Ziel aber unbeirrt weiter. »Nun? Wollt Ihr mir nicht danken?«
»Auf … auf … welche Weise?« stammelte Amram, völlig verwirrt, weil einmal die Initiative nicht mehr in seiner Hand lag, sondern in den Händen dieses unschuldigen, aber eigensinnigen Kindes.
»Wie Ihr es für richtig erachtet.«
»Vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt«, entschuldigte sich Amram in onkelhaftem, ja väterlichem Ton, während er um Fassung rang. »Was erwartet Málaga im Gegenzug für seine Unterstützung?«
»Auf mein Verlangen hin nichts.«
»Und Ihr?«
»Auch nichts. Eine Liebe wie die meine kann man nicht durch Feilschen gewinnen. Im Augenblick ist es mir genug, daß Ihr unversehrt und im Triumph des Sieges aus diesem unerhörten Angriff auf Eure Ehre hervorgeht. Wenn eine Frau liebt, so schenkt sie ohne Einschränkungen. Ich glaube jedoch nicht, daß ein Mann Eurer Umsichtigkeit einer so seltenen Liebe gegenüber auf immer gleichgültig bleiben kann oder ihren unschätzbaren Wert nicht erkennt. Eure Wertschätzung dieser Liebe soll mein Lohn sein.«
Wertschätzung? Oder Erwiderung? Wenn er sie nun wertschätzte, überlegte Amram, während er ihr kleines Gesicht mit beiden Händen sanft umfaßte, das sie in flehentlicher Erwartung eines Kusses zu ihm erhoben hatte. Aber er liebkoste es nur zärtlich. Seltsam gerührt von ihrer kindlichen Unschuld, dankte er ihr, machte dann abrupt kehrt und eilte, flüchtete beinahe den Hang zum Palast hinauf. Traurig folgte sie ihm mit den Blicken, bis er zwischen den Baugerüsten verschwunden war.
Blind vor Wut über die Verachtung, mit der der Herrscher von Granada seiner Forderung begegnet war, rief Abu Dja'far seine Truppen mit erstaunlicher Eile zusammen und schickte sie im wilden Galopp auf die Paßstraße zu, die über die Berge der Sierra Nevada in die Ebene von Granada führte. Als die Almerianer jedoch die Brücke über den reißenden Bergbach erreichten, den sie zuvor überqueren mußten, fanden sie nur noch ein paar zerborstene Bretter vor, die aus dem schäumenden Wasser ragten. Amram war schon vor ihnen dort gewesen. Abu Dja'far verfluchte den Juden mit einer Flut von Schimpfworten und jagte dann seine erschöpften Truppen den schmalen steinigen Ziegenpfad hinauf, der hoch über dem Bach in die Bergflanke eingegraben war. Sobald der größte Teil seiner Leute hintereinander auf dem Pfad aufgereiht war, ertönte schrilles Schlachtgeschrei, hallte rings um den schmalen Pfad furchterregend laut wider, als käme es vom Himmel selbst. Auf ein Zeichen Amrams stürzten sich Schwärme von Berbern mit gezücktem Schwert von oben den Hang herab auf die Almerianer und warfen sie von ihrem schmalen Weg in die tosenden Wasser. Ihre Schreie vermengten sich mit denen der Angreifer, wenn ihre Körper auf die dicht unter der Wasseroberfläche verborgenen Felsen prallten. Es war ein schreckliches Gemetzel. Neue Truppen, von Habbus angeführt, verstärkten nun den Vorteil Granadas, bis Abu Dja'fars Niederlage vollkommen war. All sein Flehen, all seine Angebote hoher Summen von Lösegeldern konnten ihn nicht vor dem Zorn des Siegers schützen. Habbus selbst, das ›Schwert des Königtums‹, durchbohrte ihn.
»Seit Ihr an meinen Hof gekommen seid, hat mich das Glück stets aus vollen Händen beschenkt«, erklärte Habbus und klatschte sich schallend auf den Oberschenkel, als er Amram nach der Rückkehr aus der Schlacht zu sich gerufen hatte. »Dank Abu Dja'fars Unverfrorenheit haben wir unverhofften Gewinn gemacht, nicht zuletzt jenen wichtigen Zugang zum Meer südlich der Sierra Nevada unweit Almuñécar. Es war ein Triumph für Granada, aber auch für das jüdische Volk.«
»Ich, o Schwert des Königtums, sehe es als einen Sieg der Toleranz über den Fanatismus, der Offenheit über die Scheinheiligkeit.«
»Ja, natürlich, Ihr formuliert es soviel eleganter als ich, ein ungebildeter Mann des Schwertes.«
»Das hat hier keine Bedeutung. Wichtig ist, daß wir einander verstehen, trotz aller Unterschiede.«
»Ich bedaure, daß Rasmia nicht hier ist und unseren Triumph mit uns teilen kann. Sie wurde nach Málaga gerufen, um dort den Tod eines Vetters zu beweinen, den sie sehr liebte und der darauf bestanden hatte, sich an Eurem Hinterhalt zu beteiligen. Als er sich auf einen Anführer der Almerianer stürzte, verlor er das Gleichgewicht und fiel zusammen mit seinem Gegner in den Tod.«
»Sie muß zutiefst betrübt sein«, erwiderte Amram, unbeschreiblich erleichtert, daß man ihn nicht aufforderte, ihr die Belohnung zu gewähren – noch nicht …
Nachdem die Schlacht gegen Almeria vorüber war, alterte König Habbus zusehends. Er war der Staatsgeschäfte müde, übertrug seinem jüdischen Wesir nun immer mehr Verantwortung, nicht nur für die Verhandlungen über Bündnisse mit anderen Berberreichen, sondern auch in der Führung anderer Feldzüge gegen Sevilla und die kleinen Fürstentümer, die es unterstützten. Dies war jedoch nicht Amrams einzige Sorge. In den eleganten Säulenhallen und blumenduftenden Gärten der großen Häuser der Stadt wurden bereits Intrigen gesponnen, die verschiedene Rivalen um die Nachfolge König Habbus' unterstützten. Wohin er auch blickte, im Königreich oder außerhalb, er sah nichts als Verrat und Betrug; in der blinden Jagd nach dem eigenen Vorteil waren alle Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Treue und Verrat gefallen.
Bei seiner Rückkehr von einer blutigen Schlacht, die er mit den Verbündeten des Tages – vielleicht den Feinden des nächsten? – geschlagen hatte, fand er ein wenig Trost in der vertrauensvollen Unschuld seines erstgeborenen Sohnes Musa, der auf ihn zugerannt kam, um von den starken Armen seines Vaters emporgehoben zu werden. Das Streicheln seiner sanften Patschhände im Nacken, seine Freude über die Rückkehr des Vaters, all das konnte einen Augenblick lang die Sorgen aus seinen Gedanken verbannen. Amrams andere Quelle des Trostes waren die Gedichte, die er verfaßte, Zeilen, in die er all die Bitterkeit fließen ließ, die an ihm nagte.
Soll ich für immer, einem Beduinen gleich, im Zelte leben?
All meine Tage hinter dieser Zeltbahn nun verbringen?
Zeit und Wildnis haben mich die Freunde längst vergessen lassen.
Nachdem er Zeuge geworden war, wie in einer Schlacht am Genil unzählige tapfere Männer niedergemetzelt wurden, wie der Kopf des Sohnes seines Erzfeindes, des Kadi Abbad von Sevilla, mit einem einzigen Hieb abgetrennt und im Triumph nach Granada getragen wurde, schrieb er:
Am Anfang gleicht der Krieg der schönen Jungfer, mit der zu
kosen alle Männer Sehnsucht hegen,
Doch stellt er sich heraus als eine garst'ge Metze, deren
Freier alle unter Schmerzen weinen.
Als er eines Abends die Feder niederlegte, nahm Amram noch einmal den Brief in die Hand, der ihn bei der Rückkehr von einem Gefecht an der Grenze erwartete hatte:
Mein geliebter Bruder,
mit großem Stolz und tiefem Ehrgefühl grüße ich Dich, zunächst als Dein Bruder, aber auch in hohem Maße im Namen unserer jüdischen Glaubensbrüder auf dem Boden von al-Andalus. Deine Serie militärischer Triumphe, Deine hohe Stellung als Wesir am Hofe von Granada, all das schenkt uns Juden ein neues Gefühl der Würde und stärkt uns in dem uneingeschränkten Vertrauen, daß wir, sollte unser Volk wieder einmal von schweren Nöten heimgesucht werden, in Dir einen mächtigen Fürsprecher unserer Sache finden werden. Ach, stünden doch Deine Begabung als Heerführer und Dein Geschick bei Verhandlungen, wie es seinesgleichen seit den Tagen unseres verehrten Großvaters Da'ud nicht gegeben hat, im Dienste eines Landes, das wir unser eigen nennen können, eines Königreiches wie Chasarien, das auf unseren Ahnen Da'ud eine solche Faszination ausübte. Müssen wir ewig auf die Ankunft des Messias warten, ehe dieser Traum Wirklichkeit wird? Ist die Zeit noch nicht gekommen, daß wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen?