Der neunte Tag. Keine Bewegung am Horizont. Wenn am Abend des zehnten Tages noch keine Truppen aus Málaga aufgetaucht waren, bliebe ihm keine andere Wahl, als aus dem Königreich zu fliehen, dem er so wertvolle Dienste geleistet hatte. Er mochte Ränke schmieden und Pläne machen wie jeder andere, wenn nicht besser, aber einen Herrscher zu verraten, dem er die Treue geschworen hatte, dazu konnte er sich doch nicht überwinden. Habbus war tot, Badis noch nicht gekrönt. Während dieses Machtvakuums mußte er verschwinden, ehe Badis von der Verschwörung zwischen ihm und dem Kalifen von Málaga erfuhr. Der zehnte Tag. Wieder postierte sich Amram auf den Verteidigungswällen, wenn er sich inzwischen auch beinahe sicher war, daß sein Plan gescheitert war. Als die Sonne unterging und die Ebene mit ihrem tiefroten Schein überzog, kletterte er von seinem Aussichtsturm, stieg die rauhe, schmale Treppe zur Festung hinunter und weckte seinen Stellvertreter auf.
»Es scheint alles ruhig zu sein, ich schlafe heute nacht zu Hause«, erklärte er ihm. »Morgen reite ich aus und inspiziere die Verteidigungsstellungen an den Grenzen, ehe unsere Truppen zurückkehren. Laßt ein Pferd für mich satteln«, befahl er und entließ den schlaftrunkenen jungen Mann.
Er packte gerade einige wenige Habseligkeiten zusammen, als man einen Kurier zu ihm führte. Er erkannte sofort das Siegel auf dem Schreiben, das der Mann ihm brachte.
»Danke … Ihr könnt gehen«, sagte er und drückte dem Boten eine Münze in die feuchte Hand.
Als er allein war, riß er den Brief auf, die Hände kalt vor Angstschweiß. Man konnte die Nachricht kaum lesen, so hastig hatte Joseph sie verfaßt. Der Inhalt jedoch war sonnenklar.
Die Berbersöldner des Kalifen hatten sich geweigert zu marschieren. Niemals würden sie ihre Schwerter gegen andere Berber erheben, hatten sie geschworen. Verzweifelt hatte der Kalif ihnen entdeckt, daß sie das auch nicht tun müßten, da die Truppen von Granada in alle Winde verstreut wären und die Stadt schutzlos vor ihnen läge. Vergebens. Wer konnte ihnen garantieren, daß dies nicht eine Falle war, die Abu Musa gestellt hatte, eine Hinterlist, wie sie von ihm schon viele gesehen hatten, als sie unter seinem unbesiegbaren Befehl gekämpft hatten? Er würde sie nach Granada locken, dann bis auf den letzten Mann niedermetzeln und damit nicht nur über Granada, sondern auch noch über Málaga herrschen. Nein. Ganz bestimmt nicht. Sie würden nicht marschieren. Alles Gold des Kalifen könnte sie nicht umstimmen.
Amram zündete eine Kerze an und hielt den Brief in die Flammen, bis die Asche, zart wie verbrannte Falter, zu Boden schwebte. Dann verließ er in der hereinziehenden Dunkelheit die Stadt.
Die ganze Nacht hindurch, während er seinem Pferd auf der Straße nach Córdoba die Sporen gab, gestattete er sich keinen Gedanken. Er ritt vier Tage und vier Nächte, trieb sein Roß erbarmungslos an, legte nur ab und zu eine kurze Rast am Wegesrand ein, wenn ihn die Müdigkeit übermannte. Als die vertrauten Umrisse seines Zuhauses vor ihm in der bleichen Morgendämmerung auftauchten, begann sein Herz zu klopfen wie nie zuvor, so hatte es nicht einmal am Vorabend der entscheidenden Schlachten geklopft, die er geschlagen hatte. Leonora und der kleine Musa waren sicher dort geborgen, das wußte er. Aber Rasmia? War sie auch da? Oder hatte sie den Wachtposten, den er ihr mitgegeben hatte, bestochen, mit ihr nach Málaga zu reisen, so daß sie dort ihren verletzten Stolz an ihm rächen konnte? Joseph hatte sie in seinem Brief nicht erwähnt, aber das bewies nichts, denn er wußte ja nichts von ihrer Rolle in dieser Angelegenheit. Hatten sich die Berber wirklich aus eigenem Antrieb geweigert, die Waffen gegen andere Berber zu erheben? Oder hatte Rasmia heimtückisch Gerüchte verbreitet, Amram liege im Hinterhalt und wolle sie alle niedermetzeln?
Völlig erschöpft klopfte er an die Tür des Landhauses, wie es vor ihm schon zwei Generationen leidender Menschen, die Hilfe suchten, getan hatten. Natan brauchte eine Weile, ehe er in der hageren, staubverkrusteten Gestalt, die da beinahe auf seiner Schwelle zusammensackte, den erhabenen Wesir von Granada, seinen Bruder Amram, erkannte.
»Was in Gottes Namen …?« stammelte er.
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Sag mir nur, ist Rasmia, die Prinzessin aus Málaga, hier bei euch?«
»Eine Prinzessin aus Málaga?« fragte Natan ein wenig bestürzt, und sein Ton verriet die Sorge, daß der Bruder den Verstand verloren hatte.
Erst jetzt geriet der unerschrockene Heerführer ins Taumeln, war nur noch ein verzweifelter, am Boden zerstörter Mann, der vor Müdigkeit, Enttäuschung und dem galligen Geschmack des Mißerfolgs bittere Tränen vergoß.
42
Natan stand still neben seinem Bruder, bis die krampfhaften Schluchzer abebbten. Als Amram schließlich den Kopf hob und ihn anblickte, zeichneten sich auf seinem Gesicht nur Hilflosigkeit und Scham ab. Erst jetzt half ihm Natan – mit dem tiefen Mitgefühl, das er von seinem Vater Hai geerbt hatte – wieder auf die Beine. Er legte ihm den Arm fest um die Schulter, führte ihn ins Haus und brachte ihn in das Zimmer, wo er als Kind so viele Stunden mit seinen Zinnsoldaten gespielt hatte. Der Raum war jetzt beinahe kahl und leer, die Verwüstung Córdobas hatte auch hier alle Spuren jener glücklicheren Zeit ausgelöscht. Nur die Wände standen noch, die Natan weiß getüncht hatte, als er dem Haus wieder den Anschein eines normalen Alltags zu geben versuchte. Sanft breitete er eine leichte Decke über den erschöpften Bruder, eilte dann in die Apothekenkammer und holte Wein, der Amrams Erschöpfung lindern sollte. Zwischendurch weckte er seinen freundlichen, aber faulen Hausdiener, der noch in der Morgenwärme döste, und bat ihn, ein Bad vorzubereiten. Bis das Wasser warm war, war Amram allerdings fest eingeschlafen.
Als Leonora aufwachte, überbrachte ihr Natan vorsichtig die Neuigkeiten und fuhr dann fort: »Ich weiß nicht, warum er dich hierhergeschickt hat und was geschehen ist. Aber er ist offensichtlich einer Todesgefahr entronnen. Am besten bleibst du mit dem kleinen Musa heute im Haus, falls seine Feinde ihn verfolgen. Wenn nötig, kann ich dich immer noch unter meinen Patienten verbergen.«
»Und Amram?«
»Ich hoffe, es wird gar nicht so weit kommen.«
Den ganzen Tag über ging Leonora in fieberhafter Unruhe im Haus auf und ab, schaute in Amrams Zimmer nach, ob er schon wieder wach war, spähte dann auf den Zugangswegen zum Landhaus nach Reitern, die sich näherten, um ihn hier aufzustöbern. Bei Einbruch der Nacht war weder das eine noch das andere geschehen. Erschöpft sank sie in einen unruhigen Schlaf, in dem immer wieder Pferde vor ihr aufstiegen, ihre großen gelben Zähne bleckten und sie mit ihren blutigen Hufen zu Tode trampelten. Natan hörte ihr leises Stöhnen, ging zu ihr und weckte sie aus ihren Alpträumen.
Amram schlief beinahe vierundzwanzig Stunden. Als er im Morgengrauen des nächsten Tages erwachte, brauchte er eine Weile, ehe er begriff, wo er war und warum er sich hier aufhielt. Kaum war er jedoch wieder ganz bei Sinnen, da sprang er schon mit der im Augenblick gewonnenen Wachheit des kampferfahrenen Kriegers auf und suchte seine Frau und seinen Bruder. Er weckte sie mit militärischer Schroffheit und begann, nachdem er der verängstigten Leonora einen kleinen Kuß gegeben hatte, unverzüglich kurz und knapp von seinem Fehlschlag zu berichten. Dann hielt er einen Augenblick inne, um seine Gedanken zu ordnen, ehe er seinen Lieben seine Schlußfolgerungen unterbreitete. »Mit einem Wort, ich bin Opfer meiner eigenen Intrigen geworden. Die Männer, die ich in der Vergangenheit mit solchem Erfolg geführt habe, kannten meine Vorgehensweise zu gut, als daß sie mir noch vertraut hätten. Das hatte ich nicht in Betracht gezogen. Und das hat all unsere Träume zunichte gemacht: Träume von einem unabhängigen Reich, das von einem Juden für Juden regiert wird. Mein zweiter Fehler war, daß ich den Prinzipien untreu geworden bin, auf denen unser großes Haus aufbaut – Diskretion, bescheidenes Auftreten und ruhige Würde. Jedesmal, wenn ich den goldenen Umhang umlegte, fühlte ich mich unwohl, als spräche unser Großvater, der große Da'ud, eine Warnung gegen eine so offensichtliche Zurschaustellung meiner Macht aus. Wann immer ich in Granada das Haus eines Würdenträgers betrat und so stolz war, daß sie mich als einen der Ihren akzeptierten, mußte ich ein kleines Unwohlsein unterdrücken, eine tiefsitzende Furcht, mein Stolz könne einem Verrat an unseren angestammten, geerbten Werten gleichkommen. Mein Stolz und mein übermäßiger Ehrgeiz. Und doch bereue ich nicht, daß ich versucht habe, ein unabhängiges Gebiet für mein Volk zu erobern. Hätte ich es nicht getan, ich hätte mir den Rest meines Lebens Vorwürfe gemacht, daß ich eine solch hervorragende Gelegenheit hätte verstreichen lassen, Da'uds Traum zu verwirklichen.