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So wie die Dinge jetzt liegen, habe ich den einzigen Vorteil verwirkt, den ich meinen Feinden voraus hatte: das Vertrauen meines Herrschers. Doch seltsam genug, ich bedaure auch das nicht. Nur wenige kennen so gut wie ich die tief verwurzelte Schwäche dieses Landes, dem unsere Familie seit drei Generationen ehrenvoll dient. Diese Schwäche werden die Feinde letztendlich ausnutzen, wenn nicht heute, so doch in den kommenden Jahren. Aasgeier werden über dem Reich kreisen und auf den richtigen Augenblick lauern, um sich herabzustürzen. Von Süden werfen die Moslems Nordafrikas begehrliche Blicke. Im Norden lauern die Christen von Kastilien, Leon und Barcelona. Für uns, die Familie Ibn Yatom ist die Zeit gekommen, unsere Zukunft anderswo zu suchen und wie immer unserem Volk den Weg zu bereiten, das im Laufe der Zeit durch die Umstände gezwungen sein wird, in unsere Fußstapfen zu treten.

Natan, in dir soll die medizinische Tradition der Familie fortleben. Ich verzichte von nun an auf das Streben nach Macht und gebe mich mit anderen Tätigkeiten zufrieden, die zum Erbe unserer Familie gehörten und die ich bisher vernachlässigt habe. Es ist viel zu tun, wenn wir das Wissen unserer Vorväter und seine Vervollkommnung durch muslimische Gelehrte sichern und mit uns in die finsteren Länder des Christentums tragen wollen. Da'ud hat damit angefangen, wurde dann aber von anderen Dingen abgelenkt. Unsere Mutter hat diese Aufgabe, soweit es ihr möglich war, mit ihren sorgfältigen Übersetzungen fortgeführt. Ich möchte das Unterfangen wieder aufnehmen und mit Hilfe unserer jüdischen Glaubensbrüder allerorten das Wissen der Menschheit all denen zugänglich machen, die es danach verlangt.«

Inzwischen war die Sonne aufgegangen und erfüllte das Haus mit einer strahlenden Helligkeit, die in Amrams müden Augen schmerzte. Er schirmte das grelle Licht ab und fuhr schnell fort: »Der Tag bricht an. Ich habe zu lange geschlafen und zu viel geredet, und es zählt jetzt jede Minute. Wir müssen sofort aufbrechen, ehe meine Verfolger mich einholen. Kommt, macht euch bereit«, drängte er sie.

»Ich kann nicht so einfach von hier fortgehen«, protestierte Natan ein wenig. »Ich kann die Aloen, die ich mit so viel Mühen wieder zum Wachsen gebracht habe, nicht ohne weiteres zurücklassen. Zumindest muß ich den Saft abzapfen und den Extrakt zubereiten, damit ich ihn mitnehmen kann.«

»Du sprichst wie jemand, der in seiner eigenen, abgeschlossenen Welt lebt, ganz gleich, was ringsum auch geschieht. Darin warst du schon immer besonders gut. Doch die brutale Wirklichkeit des Lebens drängt sich wieder einmal in deine Welt. Wenn sie mich suchen kommen, zerstören sie alles, was sie auf dem Weg vorfinden. Du hast es doch schon einmal miterlebt. Nichts wird mehr von deinen Aloen übrig sein, wenn sie erst einmal über das Haus und das Land hergefallen sind. Sie werden alles in blinder Wut ausreißen, zerhacken, zertrampeln und zerstören. Und das Schicksal, das sie für dich als meinen Bruder bereithalten, wage ich mir nicht einmal auszumalen. Wir werden ein, zwei Pflanzen sorgsam ausgraben und mitnehmen. Ralambos Erfahrung lehrt uns, daß sie robust genug sind, um zu überleben, bis wir unser Ziel erreicht haben. Sobald wir uns in einem gastlichen Land niederlassen, kannst du sie wieder einpflanzen und neu züchten.

Doch jetzt kommt, wir müssen uns beeilen. Es ist Zeit, anderen Herren zu dienen, denjenigen, die morgen ganz Spanien regieren werden.«

Amram führte die kleine Gruppe auf dem Weg nach Norden an. Der kleine Musa folgte mit Leonora, die wie benommen ritt, unfähig, die volle Bedeutung der Schicksalswendung zu begreifen. Natan bildete die Nachhut. Eine Satteltasche war prall gefüllt mit kostbaren medizinischen Abhandlungen und Aufzeichnungen, die andere mit einem kleinen Apothekenkästchen, in das er seinen ganzen restlichen Bestand von Ralambos Extrakt getan hatte, dazu noch seinen Vorrat an Großem Theriak und einige andere wichtige Heilmittel. Die Aloepflanzen lagen, an seinem Sattel festgezurrt, vor ihm. Er bewachte sie auf Schritt und Tritt wie seinen Augapfel.

Als Amram den Boden seines heimatlichen al-Andalus verließ, bedauerte er nur eines: Jetzt würde er wahrscheinlich nie mehr herausfinden, ob ihn Rasmia wirklich verraten hatte …