Am Vorabend eines Sabbats verfolgte er gerade schweigend die grazilen Bewegungen ihrer langen, schlanken Glieder, während sie sich herabbeugte, um das fein gearbeitete Ledertuch über den Tisch zu breiten, als ihn der Vater aus seiner Träumerei riß.
»Da'ud, mein Sohn, trotz deiner großen Müdigkeit, die sich in deiner Abwesenheit beim heutigen Abendgebet gezeigt hat, muß ich dich doch bitten, der Gemeinde morgen einen Dienst zu erweisen. Rabbi Zacharia ist unwohl, und niemand sonst ist gelehrt genug, um am Nachmittag die Talmudstunde zu übernehmen. Du als einer unserer glänzendsten Gelehrten und als mein Sohn wirst ihn morgen vertreten müssen.«
»Wie du wünschst, Vater.«
»Ich habe dir ein Exemplar der Traktate aus der Bibliothek der Synagoge mitgebracht.«
»Welcher Text wird morgen behandelt?«
»Ketubot, 77 b.«
»Ist das nicht der Abschnitt über die Hautkrankheit, die zu Zitteranfällen führt?«
»Das könnte schon sein«, erwiderte Ya'kub, der vor den Frauen nur sehr ungern seinen Mangel an Wissen offenbarte.
»Es ist schon lange her, daß ich diesen Text studiert habe, aber ich bereite ihn morgen früh vor. Mutter, sag Yusuf, er soll mich morgen in der ersten Tagesdämmerung wecken, wenn ich da nicht bereits auf den Beinen bin.«
Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Lange vor Tagesanbruch kämpfte sich Da'ud aus einem fürchterlichen Alptraum ins Wachen, starrte mit vor Schreck geweiteten, verstörten Augen auf die Bücher auf dem Tisch, auf die Pflanzen des Einsiedlers auf der Fensterbank, in dem verzweifelten Versuch, seine Gedanken in der festen Wirklichkeit zu verankern, während der Schrecken des Traums ihn noch in den Klauen hielt.
»Handakuka!« hatte der todgeweihte Einsiedler ihm mit einem abschätzigen Lachen aus seinem zahnlosen, weit aufgerissenen Maul zugerufen. »Ich sag dir, was das ist. Gib mir nur Sari, daß sie mir die alten Knochen wärmt wie seinerzeit die Abischag dem David. Sie ist eine zarte Pflanze, die mit liebenden Händen gepflegt werden muß«, grinste er lüstern und streckte die eisigen, knochigen Finger nach ihr aus.
»Nein!« schrie Da'ud und stellte sich schützend vor das Mädchen.
»Ja!« vernahm er hinter sich eine donnernde Stimme. Als er sich umdrehte, sah er den Kalifen, der ein blinkendes Schwert aus der juwelenbesetzten Scheide zog und es über seinem und Saris Kopf schwenkte. »Ich kann nicht mehr länger warten. Gib sie ihm, oder ihr habt beide euer Leben verwirkt«, drohte er und legte Da'ud die kalte Klinge an den Nacken.
»Gnade, o Herrscher der Gläubigen! Nur noch einen einzigen Tag!« hatte er gerufen und war von seinem eigenen unterdrückten Traumschrei aufgewacht. Immer noch schweißgebadet, wollte er sich gerade auf den Weg in die Badekammer machen, als Yusuf leise ins Zimmer trat, um ihn zu wecken. Er spürte, wie verstört sein junger Herr war, und massierte ihn kurz, während das Badewasser erwärmt wurde. Dann half er ihm beim Baden und Ankleiden und brachte ihm, als er sich zum Lesen hinsetzte, einen Teller Obst, Milch und ein Stück frisch gebackenes Sabbatbrot.
Erfrischt schlug Da'ud das Talmudtraktat auf und blätterte die viel gelesenen Seiten durch, bis er den Abschnitt gefunden hatte, den er studieren sollte. Rasch las er den hebräisch-aramäischen Text, dessen Worte, die er in seiner frühen Jugend genau betrachtet hatte, ihm nun wieder in Erinnerung kamen: »Was ist die Heilung für die Zitterkrankheit? Pila, ladanum, die Rinde eines Nußbaums und abgeschabte Späne von einer gegerbten Haut, akalil malka und der Blütenkelch eines roten Dattelbaums.« Als er die Seite umblätterte, fiel ihm ein Stück Papier, das vom Alter schon ganz durchscheinend und vergilbt war, auf das Knie. Zerstreut hob er es auf und warf nur einen flüchtigen Blick auf die ordentlichen, kantigen hebräischen Buchstaben, die darauf gerade eben noch sichtbar waren. Doch dann bemerkte er etwas Seltsames. Er schaute noch einmal genau hin, wollte den Augen kaum trauen. Einen Augenblick lang standen all seine Gedanken still, waren unfähig, das aufzunehmen, was vor ihm lag, aber schon bald konnte er wieder klar denken. Er konzentrierte all seine Kräfte auf die schattenhaften Wörter und las langsam: »Akalil malka, das heißt Hadnakuka.« Da stand es, starrte ihm von einem brüchigen Stück Papier ins Gesicht, das so alt war, daß es schon bald zu Staub zerfallen würde. Durch einfaches Vertauschen von zwei Buchstaben wurde aus hadnakuka das Wort handakuka – akalil malka! Das kannte er. Auf Arabisch hieß es ilklil al-malik, die Königskrone. Die Römer nannten es beim gleichen Namen, corona realis, was sich im Laufe der Jahrhunderte zum Romanischen coronilla verschliffen hatte. Und das war nichts anderes als der gemeine Steinklee, melilot, dessen skorpionartige Wurzeln als ein wirksames Mittel gegen giftige Bisse bekannt waren. Da'ud warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus, hysterisch vor Erleichterung. Ein Papierfetzen, den ein unbekannter Gelehrter verlegt hatte, hatte dieses Geheimnis unzählige Jahre gewahrt – und das hätte ihn um ein Haar das Leben kosten können! An was für einem feinen Faden sein Schicksal doch durch den Willen Gottes gehangen hatte! In einer Aufwallung frommer Dankbarkeit beugte er sich nieder, um den uralten hebräischen Text zu lesen, flüsterte dann den althergebrachten Segen, den man nach der Errettung aus Todesgefahr und aus Dankbarkeit für das Geschenk eines neuen Tages spricht.
6
Ein stummer schwarzer Eunuch geleitete Da'ud in die gleiche abgeschiedene Laube in den Gärten der Medina Azahara, in der sein Vater am Abend der Einweihung des Palastes seine Unterredung mit Abd ar-Rahman gehabt hatte. Der Morgen war noch frisch, die schmalen Zypressen spiegelten sich im glatten Wasser des achteckigen Marmorbeckens. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, beobachtete Da'ud im Wasser sein eigenes dunkles, schlankes Spiegelbild, bis er Schritte näher kommen hörte. Er wandte sich um und sah den Kalifen rasch auf sich zuschreiten, vor ihm den getreuen Mustapha, der eine Fliegenklatsche schwenkte. Als der Kalif die Laube erreicht hatte, zogen sich die beiden Entmannten in diskretem Abstand zurück. Mit ausgestreckten Armen hieß Abd ar-Rahman seinen jungen, schlicht gekleideten Schützling willkommen.
»Ich hatte Euch nicht so früh zurückerwartet«, lächelte er. Da'ud war sich inzwischen seiner Meisterschaft in der Kunst der Verstellung bewußt.
»Das Lächeln des Allmächtigen hat mich gewärmt«, erwiderte er bescheiden, während er dem Kalifen seine Reverenz erwies. »Wie Ihr mir befohlen habt, o Herrscher der Gläubigen, habe ich die beiden Pflanzen gefunden, die zur Vervollkommnung des Großen Theriak noch fehlten.«
»Und niemand weiß um Eure Entdeckung?«
»Keine Menschenseele.«
»Wie kann ich sicher sein?«
»Ihr habt mein feierliches Ehrenwort. Der Einsiedler, der eine der Pflanzen kannte, ist inzwischen gestorben. Ich habe ihn mit eigenen Händen beerdigt und kann Euch sein Grab zeigen, wenn Ihr Euch dieser Tatsache versichern wollt. Die zweite Zutat habe ich durch Zufall entdeckt, allein in meinem Zimmer, als ich gerade einen Abschnitt des Talmuds studierte. Sie wurde vor vielen Jahren von einem Gelehrten auf ein Fetzchen Papier geschrieben und lag zwischen den Blättern eines Traktates in der Bibliothek der Synagoge verborgen.«
»Eure Worte klingen wahrhaftig.«
»Ich fühle mich tief geehrt durch Euer Vertrauen. Ich möchte Euch weiterhin zu wissen geben, daß ich auf meiner Suche nach den beiden Zutaten ein Gegenmittel entdeckt habe, das den Menschen der Antike nicht bekannt war. Obwohl es nicht leicht zu finden ist, kann man es doch von einem gewissen ägyptischen Elfenbeinhändler erwerben, und es ist einfacher zuzubereiten als der Große Theriak. Ich möchte Euch daher untertänigst den Vorschlag unterbreiten, dieses Mittel als Reserve aufzubewahren. Einige von den zweiundvierzig Zutaten des Großen Theriak sind selten, teuer und schwer zu beschaffen. Wenn durch einen unglücklichen Zufall einmal eine fehlen sollte, könnte man statt dessen den Bezoar benutzen.«