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»Nein, Vater. Nie im Leben habe ich klarer gedacht. Seit ich dieses Mädchen zum erstenmal erblickt habe, fühle ich mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Doch ich hielt es für angemessen, so lange zu warten, bis sie erwachsen geworden war, ehe ich ihr meine Gefühle entdeckte.«

»Ich weigere mich, das gutzuheißen«, murmelte Ya'kub mit leiser Stimme, aber bebend vor Zorn. »Deine Gelehrsamkeit gereicht dir zur Ehre, aber ich erlaube nicht, daß sie dich für die Wirklichkeit des Lebens blind macht. Du kannst nicht erwarten, daß die Welt sich allen deinen Launen beugt, nur weil du ein berühmter Gelehrter geworden bist. Nein, mein Sohn, deine Stellung in der Gesellschaft verlangt von dir, daß du dich an die üblichen Gepflogenheiten hältst.«

»Zum Teufel mit den Konventionen! Meine Stellung, wie du das nennst, ist heute nicht mehr zu erschüttern, und nichts an dieser Heirat hindert mich an der Erfüllung meiner Pflichten, sei es als zukünftiger Leiter der jüdischen Gemeinde oder als Höfling im Dienste des Kalifen. Die ›Stellung‹, auf die du dich berufst, zu wahren ist meine Aufgabe, nicht Saris.«

»Und was ist mit den Kindern, den Söhnen und Töchtern einer … einer …«

»Einer was? Einer Zigeunerin? Oder einer verstoßenen Prinzessin? Wer weiß das schon?«

»Aber das ist ja gerade das Problem. Mit der Zeit stellt sich vielleicht heraus, daß sie geistig unzurechnungsfähig, körperlich versehrt, moralisch verwerflich …«

»Und doch könnte sie sich auch als eine warmherzige und liebevolle Frau und vollkommene Mutter herausstellen. Dieses Risiko will ich auf mich nehmen. Wenn ich mein Leben für meine Laufbahn aufs Spiel setzen kann, dann kann ich auch für die Frau, die ich begehre, mein Glück aufs Spiel setzen. Wenn sie geistig unzurechnungsfähig ist, dann sorge ich für sie. Wenn sie körperlich versehrt ist, so will ich sie heilen. Wenn sie moralisch verwerflich ist, so bringe ich sie auf den rechten Weg zurück.«

»Du machst dir keine Vorstellung davon, welche Last du dir aufbürdest, ein Leben der Aufopferung, das dich schließlich zu Tode erschöpfen wird.«

»Das glaube ich nicht, Vater.«

»Nun gut. Wenn du willst, dann liebe sie, aber warum sie heiraten? Deine Leidenschaft für sie ist vergänglich, die erste, die du je verspürt hast. Nichts hindert dich daran, sie in deinem Haushalt zu behalten, aber heiraten mußt du eine Frau von gesellschaftlicher Stellung und mit ihr einen ehrbaren Hausstand gründen.«

»Niemals würde ich ihr eine solche Demütigung antun.«

»Als ihr Vormund weigere ich mich, meine Zustimmung zu dieser Heirat zu geben.«

»Du vergißt, daß ich es war, der das Mädchen gefunden hat. Mein Anspruch, als ihr Vormund zu gelten, ist genauso gültig wie der deine, obwohl sie tatsächlich keinem von uns unterstellt ist. Der Kaufmann hat die Summe, die ich ihm angeboten habe, um sie auszulösen, niemals angenommen. Wenn sie also keine Einwände hat, dann werden sie und ich in Kürze Mann und Frau – eine ruhige, diskrete Eheschließung, wie es dem Ansehen unserer Familie gebührt.«

Angespanntes Schweigen lag zwischen Vater und Sohn, als Ya'kub ibn Yatom das volle Gewicht seiner Jahre auf sich lasten fühlte. Er hatte nicht mehr die Energie, der aufstrebenden Jugend etwas entgegenzusetzen. Deren Kraft und Vitalität hatte ihn besiegt. Sola, die seine Verzweiflung spürte, legte ihm tröstend eine Hand auf den Arm. Zusammen gingen sie ins Haus, ließen Da'ud allein, damit er sein Leben jenseits ihres Lebenskreises weiterführte.

8

Allein auf dem Innenhof zurückgeblieben, setzte sich Da'ud gedankenverloren an den Rand des Wasserbeckens. Zerstreut ließ er die Finger durch das dunkler werdende Wasser gleiten, bedachte die Situation, die er heraufbeschworen hatte, die er so lange und so glühend herbeigesehnt hatte. Obwohl er es seinem Vater niemals eingestanden hätte, hatte er keinerlei Vorstellung, wie er zu diesem Mädchen, von dem er nichts wußte, am besten einen mit Sinn erfüllten Kontakt aufbauen sollte. Davon hatten ihm seine Bücher wahrhaft nichts gesagt … Doch ehe er noch Zeit hatte, sich eine angemessene Vorgehensweise zu überlegen, trat Sari schon aus dem Haus und ging auf dem Weg zu den Frauengemächern über den Innenhof.

»Komm her zu mir«, sagte er spontan. »Komm und setz dich ein Weilchen zu mir an das Wasserbecken.«

Wie an dem Tag, an dem er ihr zum erstenmal begegnet war, erhob sie die Augen einen flüchtigen Augenblick zu ihm – dieses Blitzen des tiefsten Meerblaus – und senkte sie dann rasch wieder, ehe sie sich steif ein wenig abseits von ihm hinsetzte, den Kopf gesenkt, die Hände lose zwischen den Knien gefaltet.

»Sag mir, Sari, bist du glücklich hier bei uns in Córdoba?«

»Glücklich?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme, den Blick starr auf ihre Knie gerichtet.

»Ja.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was Glück ist.«

»Zufrieden dann wenigstens, oder zumindest nicht unglücklich?«

»Weniger unglücklich als ich je war, außer …« Sie verstummte.

»Außer?«

»Außer an dem Tag, als mich der Händler mit sich fortnahm.«

»Wo?«

»Da.«

»In Prag?«

Sie nickte.

»Fort von wem?«

»Von niemand. Da war niemand.«

»Der Händler hat mir erzählt …«

Aber ehe er seinen Satz noch zu Ende sprechen konnte, erhob sich Sari unvermittelt und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. »Gute Nacht, Herr.«

»Warte!« rief er ihr hinterher. »Warte! Ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten. In meinem Zimmer steht auf dem Fensterbrett eine kleine Sammlung von Pflanzen, die der ständigen Pflege bedürfen. Meine neuen Pflichten bei Hofe werden mich sehr in Anspruch nehmen, und ich fürchte, ich könnte die Pflanzen vernachlässigen. Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, dich um sie zu kümmern?«

»Wie Ihr wünscht, Herr.«

»Wenn ich am Sabbatmorgen aus der Synagoge zurückkomme, wollen wir die Pflanzen zusammen ansehen.«

»Wie Ihr wünscht«, wiederholte sie. »Gute Nacht, Herr.«

»Es geziemt sich nicht, daß du mich Herr nennst«, sagte er und stand auf, um ihr zu folgen. »Du bist frei, Sari, niemandem Untertan.«

»Frei?«

»Ja, frei.«

»Niemand ist frei. Niemand kann allein existieren, und da jeder Mensch jemanden braucht, kann niemand frei sein.«

»Frei in dem Sinne, daß du das Leben wählen kannst, das du zu leben wünschst.«

»Um auswählen zu können, muß man Alternativen haben. Ohne Alternative kann es keine Wahl geben. Ich muß gehen, Meister. Gute Nacht.«

Da'ud war wie vor den Kopf gestoßen. So viel Hoffnungslosigkeit in einem so jungen Geschöpf, solch klares Denken, solch kalte Verzweiflung! Nur tiefstes menschliches Leid konnte sie so verbittert haben. Was war schlimmer? fragte er sich. Ein Körper, den die Schmerzen peinigten, oder eine Seele, die eine menschliche Tragödie zerstört hatte? Einer Sache war er sich sicher: es war weniger anmaßend, den Verlauf eines menschlichen Schicksals ändern zu wollen, als um das Leben eines Sterbenden zu ringen. Kein Mensch, der nach Gottes Ebenbild geschaffen war, verdiente es, sein Leben ohne die Aussicht auf Glück zu fristen. Das zumindest mußte er Sari geben, ihr so anbieten, daß sie es willentlich annahm … Die ganze Nacht hindurch wälzte sich Da'ud im Bett, ständig von einem Alptraum heimgesucht: Ihm träumte von einem kleinen, blau gefrorenen Kind, das man in einer jungfräulich weißen Schneewehe ausgesetzt hatte. Jedesmal kam er, nachdem er sich mühsam durch den knietiefen Schnee gekämpft hatte, auf Armeslänge an das Kind heran, doch da schien es in die Weiße fortzuschmelzen, tauchte weiter oben an einem endlosen Hang wieder auf, ständig außerhalb seiner Reichweite. Erst gegen Morgen fiel er in ruhigen Schlaf, wachte viel später als gewöhnlich auf. Der Morgen war schon beinahe halb verstrichen, als er das Gemach neben der alten Palastbibliothek erreichte, in dem er zusammen mit dem Mönch Nicolas jeden Tag einige Stunden arbeitete.