»Und die Geschwulst?« drängte ihn Da'ud.
»Klein genug, daß ich sie ganz herausschneiden und ausmerzen konnte, und in einer Lage, daß ich auch die Umgebung bis zum gesunden Gewebe entfernen konnte. Ich habe die Wunde bis in die Wurzeln hinein ausgebrannt, was die Heilung beschleunigen sollte. Ich bitte Euch um Entschuldigung dafür, daß ich Euch nicht erlaubt habe, bei der Operation anwesend zu sein. Ich fürchtete, daß eine Gefühlsbezeugung von Euch, dem Sohn des Kranken, oder von Eurem Vater meiner Konzentration hätte abträglich sein können. Geht jetzt zu ihm. Er ist noch ein wenig benommen von dem Mohntrank, den ich ihm zur Beruhigung verabreicht habe, aber ansonsten geht es ihm so gut, wie man es nur erwarten kann.«
Da'ud schwirrte der Kopf vor Erleichterung, als die Anspannung plötzlich von ihm abfiel. Ein Dankgebet auf den Lippen, betrat er das improvisierte Behandlungszimmer und ergriff die Hand seines Vaters, der friedlich schlummerte.
Hoch aufgeschossen, das dunkle, großflächige Gesicht mit den breiten Wangenknochen hager und von Falten durchzogen, näherte sich Bahya ibn Kashkil, als Da'ud sich aus der Menge befreite, die ihn nach dem Sabbatgottesdienst umringt hatte, um sich nach dem Gesundheitszustand seines Vaters zu erkundigen. Trotz seiner imposanten Statur hatten die Schritte des Fremden etwas Furchtsames, jenes Zögern des Neuankömmlings in einer Umgebung, die ihm nicht vertraut war.
»Ich entschuldige mich von ganzem Herzen, daß ich Euch in einer so schwierigen Zeit belästige«, begann Bahya ibn Kashkil, dessen Arabisch eine gewisse Bildung verriet. »Aber Meir ibn Migash, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Marrakesch und erste Tuchhändler dieser Stadt, nannte mir den Namen Eures Vaters. Ehe ich mich auf den Weg nach Córdoba machte, versicherte er mir, Ya'kub ibn Yatom würde alles in seiner Macht Stehende tun, um mir bei meiner Ankunft hier behilflich zu sein. Ich glaube, die beiden hatten im Laufe der vergangenen Jahre geschäftliche Beziehungen und empfinden großen Respekt für einander. Ihr könnt Euch meine Bestürzung vorstellen, als ich von der Krankheit Eures Vaters erfuhr. Ich hoffe, er ist auf dem Wege der Besserung?«
»Soweit das sein fortgeschrittenes Alter zuläßt«, antwortete Da'ud mit kühler Höflichkeit. »Als sein Sohn und Erbe seiner Verpflichtungen im Dienste der Gemeinde kann ich Euch vielleicht helfen?«
»Ihr seid zu gütig«, erwiderte der Neuankömmling und verbeugte sich respektvoll, um Da'uds Saphirring zu küssen.
»Was bringt Euch von Marrakesch nach Córdoba?«
»Der Wunsch nach Sicherheit, mehr nicht. Vor nicht allzu langer Zeit stolperte meine Frau über einen Stein und wurde auf dem Weg zum Brunnen unseres Heimatdorfes unweit von Marrakesch zu Tode getrampelt. Plötzlich waren Überfalltrupps der Fatimiden aus dem Osten aufgetaucht. Sie preschten durch unser Dorf, um gegen die Truppen der Zenata zu kämpfen, die die westlichen Gebiete verteidigen, die noch unter der Herrschaft der Omaijaden stehen. Meine arme Aisha war, als sie stolperte, den dahinjagenden Fatimiden direkt in den Weg geraten und wurde von den Hufen ihrer wilden Araberhengste zu einem jämmerlichen Häuflein Menschenfleisch zermalmt. Derlei Überfälle geschehen immer häufiger, und ich habe an ihrem Grabe geschworen, daß ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um unsere Tochter vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.«
»Ich verstehe Euren Kummer«, antwortete Da'ud förmlich. »Womit habt Ihr Euch in Marokko Euren Lebensunterhalt verdient?«
»Mein Vater hat mir ein kleines Stück Land in unserem Dorf vererbt, aber die Erträge waren nicht ausreichend, um uns einen guten Lebensunterhalt zu sichern, also habe ich mein Einkommen dadurch ergänzt, daß ich in den Kinderklassen der jüdischen Schule von Marrakesch Hebräisch unterrichtete. Aber seid ohne Furcht, Abu Suleiman, ich bin nicht verarmt und werde Eurer Gemeinde nicht auf der Tasche liegen. Ich habe mein Haus und mein Land verkauft und besitze daher zusammen mit meinen Ersparnissen genügend Geld, um hier ein bescheidenes Anwesen zu erwerben. Ich suche Arbeit, und ich hoffe auf eine Anstellung als Lehrer an Eurer Talmud- und Thoraschule.«
Während die beiden Männer sich noch unterhielten, hatte sich der Hof der Synagoge geleert. Nur ein junges Mädchen, beinahe so groß wie der Fremde selbst, stand noch in einer Ecke und hatte die lebhaften braunen Augen auf sie gerichtet, während sie versuchte, das Gespräch zu verfolgen.
»Eure Tochter?« fragte Da'ud mit einer Kopfbewegung in ihre Richtung.
»Ja. Darf ich sie Euch vorstellen?«
»Sicher.«
»Komm, Djamila, und erweise Abu Suleiman Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom, dem Sohn des Gemeindevorstehers von Córdoba, deinen Respekt.«
Die aufrechte, selbstbewußte Haltung der jungen Frau, als sie den Hof überquerte, die anmutigen Bewegungen ihrer langen, aber nicht ungelenken Gliedmaßen erweckten einen Funken des Interesses in Da'uds Gedanken, wenn auch nicht in der Tiefe seiner wie immer ruhigen Augen.
»Willkommen in Córdoba«, sagte er steif, als sie sich niederbeugte, um den Saum seines Gewandes zu küssen, und fuhr dann, an ihren Vater gewandt, fort: »Eine Stelle als Lehrer, sagt ihr. Das müßte der Leiter der Talmud- und Thoraschule entscheiden. Kommt heute abend, wenn der Sabbat zu Ende ist, in mein Haus, und ich gebe Euch einen Brief an ihn mit.«
»Bei allem Respekt, Abu Suleiman, ich möchte Djamila nur ungern nach Einbruch der Dunkelheit allein zu Hause lassen. Morgen in aller Frühe vielleicht?«
»Ihr könnt gern Eure Tochter mitbringen«, hörte sich Da'ud antworten, und seine Worte entfachten ein Funkeln in Djamilas wachen und aufrichtigen Augen. »Jetzt entschuldigt Ihr mich bitte«, murmelte er und eilte zum Mittagessen ins Haus seines Vaters.
Ya'kub ging es recht gut. Er schien nicht allzu sehr unter den Folgen der Operation zu leiden und konnte allmählich sogar sein Bein wieder gebrauchen. Da'ud sorgte sich allerdings wegen der zunehmenden Schwäche seines Vaters, wegen des langsamen, aber stetigen Gewichtsverlusts, dem auch alle Köstlichkeiten, die seine Mutter mit liebender Hand zubereitete, keinen Einhalt gebieten konnten. Sein Herz sagte ihm, daß dies nur eine Folge des fortgeschrittenen Alters war. Sein Wissen als Arzt sagte ihm etwas anderes. Und in ihm tobte der Streit zwischen den beiden, schien ihn zu zerreißen …
»Da'ud, mein Sohn«, begrüßte ihn Ya'kub und strengte sich an, um aufrecht in den Kissen zu sitzen, während die beiden Männer einander umarmten. »Ich bin jetzt ein alter Mann. Jeden Tag spüre ich, wie mich meine Kraft mehr verläßt. Ich habe mich daher entschlossen, mit dir zu sprechen, ehe es zu spät ist. Da'ud, mein Sohn«, wiederholte er, »es ist Zeit, daß du der Familie einen Erben schenkst. Ich verstehe deine Liebe zu Sari. Sie ist eine liebe und sanfte Seele, wunderhübsch anzusehen, und ich spüre, daß sie dich inzwischen beinahe genauso liebt wie du sie. Was in der Intimität eures Bettes zwischen euch ist, geht mich nichts an, das Ergebnis allerdings sehr wohl. Wenn sie nicht in der Lage ist, dir Kinder zu gebären, dann erlauben es Recht und Tradition, ja fordern dich sogar dazu auf, daß du eine andere Frau nimmst.«
»Ich denke schon eine ganze Weile über diese Angelegenheit nach, Vater, und Sari hat mich ermutigt, das zu tun, was du vorgeschlagen hast. Ich bin derjenige, der zögert. Seit dem Augenblick, als ich Sari das erstemal gesehen habe, habe ich nur von ihr als der Mutter meiner Kinder geträumt.«
»Nicht alle unsere Jugendträume gehen in Erfüllung. Dank deines wohlhabenden Elternhauses und deiner natürlichen Gaben ist dein Leben so reibungslos verlaufen wie der Flug eines Vogels, der in den Himmel aufsteigt. Du warst nie gezwungen, die Lehren der Entbehrungen, des Versagens oder der Enttäuschung über dich ergehen zu lassen. In deinem Alter ist es schwierig, sich mit Enttäuschung abzufinden, aber du mußt dich der Unabwendbarkeit der Tatsachen beugen.«