»Und doch haben die Hebammen die Geburt nicht als leicht bezeichnet. Sie waren sehr besorgt. Einen Augenblick lang dachte ich, man hätte mir ein Stück meiner selbst mit Gewalt entrissen.«
Da'ud wartete einen Augenblick, ehe er antwortete. »Ich habe mit ihnen gesprochen.«
»Es wird keine weiteren Kinder geben, nicht wahr?«
»Vielleicht nicht. Das kümmert mich nicht. Ich habe nicht das Verlangen, dich noch einmal so leiden zu sehen. Ich habe dich, und ich habe unser Kind der Liebe, Hai, dessen Name ›Leben‹ heißt. Mit zwei solchen Schätzen wäre es vermessen, um noch mehr zu bitten.«
»Und du hast Amira – und Djamila ebenso.«
Da'ud brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie hat ihren Zweck erfüllt«, sagte er nüchtern und bestimmt.
Hais leises Weinen beendete das Gespräch. Sari eilte in ihren Flügel des Hauses zurück, um ihr neugeborenes Kind zu stillen, während Da'ud die Ärmel seines dunklen Gewandes zurechtzupfte und die Gäste empfangen ging.
Rabbi Samuel Ben Mar Shauk, der ehrwürdige Gelehrte aus Lucena, kam als erster. Er war noch nie von kräftiger Gestalt gewesen, inzwischen jedoch gebrechlich und ein wenig zitterig geworden, und sein dünner weißer Bart gemahnte an den feinen Wasserschleier, der über dem Wassergarten schwebte. Tränen der Rührung standen ihm in den schwach gewordenen Augen, als er seinen ehemaligen Schüler umarmte, der sich von Anfang an als hervorragender Denker gezeigt und Großes versprochen hatte. Was für ein Vergnügen war es gewesen, ihm die Schönheit der biblischen Sprache und ihrer poetischen Bilder zu vermitteln, ihm die Weisheit der Talmudgelehrten zu erläutern. Welche Befriedigung hatte ihm die Gewißheit verschafft, daß jedes seiner Worte vom wachen Verstand dieses Jungen aufgenommen und dort sorgfältig abgewägt wurde. Selbst wenn Da'ud in seinem späteren Leben die Einhaltung bestimmter Regeln, die seiner Meinung nach mit seinem Alltag nicht vereinbar waren, weniger ernst genommen hatte, so war er sich ihrer doch bewußt und hatte eine wohlüberlegte eigene Entscheidung getroffen. Dafür konnte ihm Rabbi Samuel im Grunde seines Herzens keinen Vorwurf machen. Er war zutiefst gerührt über die Ehre, die Da'ud ihm hatte zuteil werden lassen, als er ihn zum Paten für Hai ausgewählt hatte. Obwohl Rabbi Samuel wußte, daß ihn die Reise aus der Abgeschiedenheit Lucenas in die geschäftige Stadt Córdoba, die einmal seine Heimat gewesen war, sehr ermüden würde, hätte ihn nichts bewegen können, diese Ehre auszuschlagen. Als nun seine schwachen Arme die schmale, ernste Gestalt Da'ud ibn Ya'kub ibn Yatoms, des mächtigsten Juden in ganz al-Andalus, umfingen, da murmelte er ein Dankgebet, daß Gott ihn am Leben erhalten und dafür gesorgt hatte, daß er diesen Tag erleben durfte. Da'ud war gerührt und zutiefst zufrieden. Die Wahl Rabbi Samuels zum Paten hatte ihm nicht nur die Möglichkeit gegeben, seinen Mentor zu ehren, er entging so auch der Gefahr, eifersüchtige Streitereien zwischen den prominenten Mitgliedern der Gemeinde heraufzubeschwören, die alle um seine Gunst buhlten.
Gleich hinter Rabbi Samuel erschien Rabbi Ezra, der Beschneider, dem Abu Sa'id und Abu'l Kasim unmittelbar folgten. Nachdem die beiden Ärzte Da'ud begrüßt hatten, unterhielten sie sich mit Rabbi Ezra über die sicherste und schnellste Art, die Vorhaut eines Neugeborenen zu entfernen. Mit der Miene der absoluten Autorität fuhr Ibn Zuhr mit dem Finger über die scharfe Klinge des Messers, das der mohel benutzen würde, während Abu'l Kasim überprüfte, ob der Schlitz zwischen den lotosförmigen silbernen Blättern der Schutzklemme, die den Penis des Säuglings abschirmen würde, die richtige Breite hatte. »Diese Instrumente wurden eigens für den heutigen Anlaß gefertigt«, gab Rabbi Ezra zu verstehen.
Nach einem zustimmenden Blick auf Abu'l Kasim verkündete Ibn Zuhr knapp: »Sie sind in Ordnung.« Dabei ließ er ein kleines goldenes Behältnis in die Hand des Beschneiders gleiten, das ein weißes alkalisches Pulver enthielt. »Streut ein wenig davon auf die Wunde, ehe Ihr sie verbindet«, sagte er und mischte sich dann zusammen mit Abu'l Kasim unter die anderen Gäste.
Eine glänzende Gesellschaft hatte sich versammelt. Der jüngere Bruder des Kalifen war als al-Hakams persönlicher Vertreter zugegen, zusammen mit anderen Prinzen aus dem Hause der Omaijaden, alle mit reichen Gewändern und funkelnden Juwelen geschmückt. Zu bedeutenden Wesiren gesellten sich Höflinge von geringerem Rang. Rabbis und Richter von den jüdischen Gerichten waren aus allen Gemeinden von al-Andalus gekommen. Dichter, Gelehrte und Philosophen in großer Zahl waren erschienen. Aus den christlichen Königreichen hatten die Herrscher von Leon und Navarra ihre persönlichen Gesandten geschickt. Königin Toda, die noch nie jemand der Undankbarkeit hatte bezichtigen können, schickte dem Sohn des Mannes, dem ihr Enkel Gesundheit und Thron verdankte, ein Miniaturschachspieclass="underline" filigrane Figuren aus Gold und Silber, das Schachbrett aus rotem und grünem Jaspis.
Als Da'ud den Blick über die zahllosen Gäste schweifen ließ, erfüllte ihn ein Stolz, der ihn ein wenig ängstigte. Wenn ein Mann den Gipfel seiner ehrgeizigen Wünsche erreicht hat, wenn die Höchsten des Landes ihm, dem engsten Vertrauten des Kalifen, dem Gelehrten und Arzt und dem Höchsten unter den Juden in al-Andalus, ihre Ehrerbietung erwiesen, was lag dann noch vor ihm? Der Titel eines Wesirs war ihm verwehrt, um ihn vor der Gegnerschaft der Imame zu schützen, die es nicht dulden würden, daß ein Jude Autorität über die Moslime bekam. Er konnte also nicht weiter aufsteigen. Die Zukunft konnte ihm folglich nur Stillstand oder Niedergang bringen. Andere junge Männer, die so sehr vom Ehrgeiz getrieben waren wie einstmals auch er, würden sicherlich auftauchen und mit ihm um die Gunst des Kalifen wetteifern … Und wer konnte vorhersagen, wie es in der Zukunft um sein persönliches Glück bestellt sein würde, das heute vollkommen war, aber doch zugleich äußerst verletzlich, da zwei Frauen, zwei Kinder einander gegenüberstanden, getrennt durch den harmonischen Garten, den er zwischen ihnen angelegt hatte. Bis heute war alles gutgegangen, ermahnte er sich. Genieße deinen Triumph! So wie du in der Vergangenheit den Gefahren getrotzt hast, so wirst du dich auch in Zukunft verteidigen, dich und deine geliebte Frau Sari und Hai, euren langersehnten Sohn.
Nun winkte ihn Rabbi Ezra zu sich. Seine Mutter Sola hatte Sari den Säugling bereits abgenommen und ihn an Rabbi Samuel weitergereicht, der auf seidenen Kissen ruhte und das Kind auf dem Schoß hielt, die Handreichungen des Beschneiders erwartete. Rabbi Ezra hatte die glänzenden neuen Instrumente sorgfältig auf einer makellosen Marmorplatte ausgebreitet und näherte sich dem Kind, entfernte die Windeln und spreizte die winzigen, protestierend strampelnden Beine weit auseinander. Sari, die vom Fenster ihres Zimmers aus die Zeremonie beobachtete, unterdrückte einen Angstschrei, ihr Körper krampfte sich heftig zusammen. Ihr einziger Wunsch in diesem Augenblick war die Flucht, die Flucht vor dem Anblick Ezras, der mit starker Hand die Beine des Kindes gegen dessen Willen spreizte, so wie andere, grausamere, brutale Hände vor vielen Jahren ihre mageren Kinderbeine mit Gewalt gespreizt hatten … Auch damals hatte sie ihre Angstschreie unterdrückt, aus Furcht, die Hände der alten Männer könnten ihr noch größere Gewalt antun … Sola, die sich ihrer inneren Qual nicht bewußt war, legte mütterlich den Arm um sie, eine warme menschliche Berührung, die tief in Saris innerstem Wesen etwas löste. Hemmungslos ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und mit ihnen strömte all der Schmerz aus ihr heraus, den sie seit ihrer Kindheit stumm in sich verborgen hatte. Es war, als wäre sie durch ihren Sohn selbst wiedergeboren und hätte sich nun endlich davon befreit. Der Klang von Hais gesundem, kräftigem Protestgeheul – schwach in den Ohren anderer, aber ein durchdringender Schrei in den Ohren seiner Mutter – vermischte sich mit ihren eigenen Schluchzern, mit ihrem eigenen verspäteten Protest. Erst jetzt war in ihr der Wunsch nach Flucht für immer gewichen, und mit ihm in der Flut ihrer reinigenden Tränen auch der Schmerz. Sie mußte hierbleiben, ihren Sohn beschützen, ihn in den Armen wiegen, ihn an ihrer Brust nähren, ihn trösten, wie sie selbst getröstet worden war. Niemals würde sie ihn verlassen, so daß er die Prüfungen des Lebens allein bestehen mußte. Niemals, so lange sie Atem in sich verspürte.