Auch in Da'uds häuslichem Leben herrschte der Anschein von Harmonie, aber dort verbargen sich ebenso Spannungen hinter der heiteren Fassade. Nach dem Vorbild des Hausherrn drehte sich unter seinem Dach alles um Hai. Alles Tun wurde den Bedürfnissen und Wünschen des Kindes untergeordnet, und die Liebe und Aufmerksamkeit des gesamten Haushaltes wurde ihm ohne Einschränkung in reichem Maße zuteil. Über jede seiner Bewegungen, jedes Murmeln, jede Handlung oder Reaktion wurde Bericht erstattet, alles wurde bis in die kleinste Kleinigkeit von seiner Mutter, seiner Großmutter, seiner Kinderfrau und sämtlichen Dienstboten kommentiert, dann seinem Vater unverzüglich bei dessen Heimkehr aus dem Palast mitgeteilt. Von dem Augenblick an, da er das Haus betrat, hatte Da'ud nur noch Augen für Hai und seine geliebte Sari. Bis weit in den lauen, süß duftenden Abend hinein blieben die drei draußen neben dem murmelnden Wasserlauf oder unter den dunkler werdenden Zypressen, und die Eltern bewunderten die Vorwitzigkeit des Kleinen, sahen darin den unwiderlegbaren Beweis für seinen herausragenden Verstand, schrieben seine tiefblauen Augen der Mutter zu, die dunkle Gesichtsfarbe dem Vater, die langen Hände allein ihm selbst …
Amira ließ sich nur schwer in Djamilas Flügel des Hauses halten, wenn sie einmal ihren Vater und den kleinen Halbbruder draußen beim Spielen erspäht hatte. Temperamentvoll und entschlossen befreite sie sich aus jeglicher Umklammerung und strebte resolut zu den beiden hin. Wenn Sari sah, wie sie angelaufen kam, streckte sie mit einem warmen Willkommen die Arme nach ihr aus. Sie drückte das Mädchen an sich und zeigte ihm das Wunder von Hais Händen mit den langen, schlanken Fingern, nahm dann die kleine Patschhand des Mädchens in die ihre und ließ sie damit sanft die Hand des Säuglings berühren. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, beschloß sie für sich, um in dem Mädchen liebevolle, beschützende Gefühle für Hai zu wecken. Da'ud jedoch ignorierte seine Tochter weiterhin und fachte damit den Groll im Herzen der verstoßenen Mutter nur noch mehr an.
Wie schon in den langen Monaten der Schwangerschaft besuchte Djamila weiterhin die feinen Damen der Gemeinde, insbesondere die Schwestern Bar Simha. So weilte sie immer länger und häufiger außer Haus, und mit der Zeit schloß sich Amira immer mehr an Sari an. Wäre Sari nicht gewesen, hätte dieses Kind vielleicht niemals das Licht der Welt erblickt. Letztlich war Sari dafür verantwortlich, daß Amira lebte, nicht dieses kleine Mädchen selbst. Amira sollte nicht unter den Folgen von Saris eigener schrecklicher Kindheit leiden müssen und auch nicht unter dem Leben, das ihre Mutter nun gewählt hatte. Seit Hais Geburt hatte Djamila keine Funktion, keinen Platz mehr in Da'uds Haus. Wer konnte es ihr verdenken, wenn sie außerhalb des Hauses unschuldigen Zerstreuungen nachging? Amira sollte nicht den Preis dafür zahlen. Sie war unschuldig, sie sollte nicht die Mutterliebe entbehren müssen, auf die sie ein Recht hatte, ein Recht, das man Sari so grausam vorenthalten hatte. Wenn Djamila zu unglücklich war, um dem Kind Liebe zu schenken, dann würde eben sie, Sari, für sie einspringen, so gut sie konnte. Da'ud hatte nichts dagegen, daß Sari seiner Tochter solche Zuneigung zeigte, doch er selbst blieb ihr fern, stets kühl und unnahbar. Er liebte nur seinen Sohn, seinen Hai.
Was hätte er ohne diesen ruhigen Hafen der Liebe, des Vertrauens und des Verständnisses gemacht, in dem er sich von der Plage seiner Tage erholen konnte? Das fragte er sich unweigerlich jeden Abend, wenn er nach Hause zurückkehrte. Die christlichen Fürsten, untereinander zerstritten, hatten den Tribut an ihren arabischen Oberherrn stets nur zögerlich gezahlt, doch ohne diese Gelder konnten die Arbeiten an dem Hospital nicht weitergehen. Genausowenig konnten ohne das Geld die Manuskripte, auf die der Kalif so erpicht war, gekauft oder abgeschrieben werden. Da'ud sah sich also gezwungen, ständig mit den Finanzen zu jonglieren, manchmal sogar Anleihen aus seinem Privatvermögen beizusteuern, um nicht das Vertrauen derer zu verlieren, deren Dienste für ihn lebenswichtig waren. Über diese Probleme sprach er mit niemandem außer seinem Lehrmeister Ibn Zuhr. Allerdings war er sich auch völlig darüber im klaren, daß sein Schweigen weder Geheimhaltung garantieren noch als Schutz gegen die üble Nachrede des Abu Bakr dienen konnte.
Niemand vermochte besser als der schlaue Finanzberater die Kosten der Unternehmungen zu berechnen, mit der al-Hakam Da'ud betraut hatte, niemand konnte die Einkünfte und die Ausgaben, für die er verantwortlich war, besser einschätzen. Sicherlich, würde Abu Bakr vielleicht flüstern, hätte der Jude nicht aus privaten Mitteln Gelder vorgestreckt, wenn er nicht vorher Tributzahlungen zu seinen eigenen dubiosen Zwecken veruntreut und anrüchigen Kunden zu Wucherzinsen geliehen hätte, von denen er nun die Schulden nicht wieder einzutreiben vermochte? Und was war mit den jüdischen Manuskripten? So quälte sich Da'ud, wenn ihn eine seiner dunklen und zweifelnden Stimmungen heimsuchte. Warum hatte er sich vom Vorschlag seines anmaßenden Sekretärs in Versuchung führen lassen, warum hatte er entgegen allen praktischen Erwägungen dem Wunsch nach Unsterblichkeit nachgegeben? Wenn Abu Bakr von der Sammlung erfuhr, die die jüdische Gemeinde zusammentrug, wie schnell würde er dann das Gerücht in Umlauf setzen, Da'ud mißbrauche al-Hakams Sendboten, sende sie auf Kosten des Kalifen zum Nutzen seiner eigenen Gemeinde aus? Solche Lügen, geduldig von mächtigen Männern in die Ohren nur allzu williger Zuhörer geträufelt, erhielten leicht das Gepräge der Echtheit … Obwohl er seine Bücher gewissenhaft führte, die ihm anvertrauten öffentlichen Gelder untadelig verwaltete und keinen einzigen Piaster Zinsen für die zeitweilig vorgestreckten Summen nahm, lebte Da'ud ständig in einem Zustand der Anspannung, der ihm allmählich den Seelenfrieden raubte.
Immer mehr mußte er sich eingestehen, daß die Umstände und sein eigener Ehrgeiz ihn von seinem jugendlichen Wissensdurst fort und in eine Welt geführt hatten, die nicht mehr die seine war. Sogar seine morgendlichen Unterredungen mit dem Kalifen erfüllten ihn keineswegs mit Stolz und Befriedigung, sondern dienten lediglich dazu, den Unterschied zwischen ihm und den erhabenen Kreisen zu betonen, in denen er sich nun bewegte. Der Kalif, ein Moslem, konnte vor ihm, einem Juden, ungehindert über den Grenzbereich zwischen kalter, intellektueller Logik und religiösem Glauben spekulieren, konnte ganz offen seine Leidenschaft für erstere und seine tiefe Skepsis gegenüber dem letzterem zum Ausdruck bringen, eben wegen dieser unauslöschlichen, tief verwurzelten Unterschiede zwischen ihnen beiden. Nur weil al-Hakam sicher war, daß kein Sterbenswörtchen über seine inneren Zweifel je den stets aufmerksamen Imamen zu Ohren kommen würde, gestattete er es sich überhaupt, seine ketzerischen Gedanken dem jüdischen Vertrauten mitzuteilen.
»Ich ertappe mich manchmal bei der Überlegung«, gestand ihm al-Hakam einmal mit einem traurigen, schuldbewußten Lächeln, wie ein Kind, das man beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt hatte, »daß unsere antiken Vorväter recht hatten, als sie Götter mit menschlichen Eigenschaften anbeteten, höhere Wesen, die Krieg führten und Frieden schlossen, liebten und haßten, nach Belieben Belohnungen und Strafen austeilten. Es fällt mir leichter zu glauben, daß wir nach ihrem Ebenbild geschaffen sind als nach dem Ebenbild eines gnädigen, guten Gottes, einer einzigen Gottheit. Es fällt mir leichter, die Menschheit als das Spielzeug kapriziöser Götter zu sehen denn als Spielzeug Eures Jahwe, des Jesus der Christen oder unseres Allah. Denn wenn wir nur Marionetten im kosmischen Theater des Einzigen und Wahren Gottes sind, wie soll man all das Elend erklären, das auf der Erde existiert?«
»Ja, wie«, erwiderte Da'ud unverbindlich, wollte nicht zugeben, daß der gleiche Zweifel auch an ihm nagte. Wie gründlich sein Volk im Exil Elend und Leiden kennengelernt hatte! Jederzeit konnten Unterdrückung und Verfolgung die Juden treffen, sie, die landlose Minderheit, die den Völkern ausgeliefert war, bei denen sie zu Gast lebte, und die daher jederzeit als Opfer herhalten mußte, an dem man allen Unmut auslassen konnte. Und doch, trotz allem glaubten sie unerschütterlich, waren sie trotzig immer noch davon überzeugt, das Auserwählte Volk Gottes zu sein …