Wäre das Los der Juden ein anderes gewesen, wären nicht die Gemeinden in al-Andalus auf ihn angewiesen, auf ihn, den Anführer und Beschützer vor derlei Anfechtungen, er, Da'ud ibn Yatom, hätte sich nur zu bereitwillig aus der Welt zurückgezogen, in die ihn sein Schicksal geführt hatte, hätte nur zu gern auf alle Ehren und Reichtümer, auf die Macht und den Ruhm verzichtet, die man ihm gegeben hatte, und sich dem einfachen, sorglosen Leben der Gelehrsamkeit gewidmet. Ein solches Leben, frei von jeglicher Verpflichtung für seine jüdischen Brüder, wäre möglich gewesen, wenn die Juden ein eigenes, unabhängiges Königreich besessen hätten.
Während seine Gedanken so wanderten, erinnerte sich Da'ud an einen Abschnitt, den er in der Geographie des Abu Ishak al-Istrakhri gefunden hatte, in einem Band, den er kürzlich für die Bibliothek des Kalifen erworben hatte. Dort wurde kurz ein jüdischer Chakan erwähnt, der vor etwa zweihundert Jahren die Chasaren regiert hatte, einen mächtigen Turkmenenstamm, der irgendwo zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer lebte. War Chasarien ein unabhängiges jüdisches Königreich gewesen? Existierte es noch? Wie und wann, wenn überhaupt, hatten sein Herrscher und dessen Untertanen die Gesetze Moses angenommen? Sollte er einen Gesandten zum Chakan jenes fernen Reiches schicken? Wenn es ein solches jüdisches Königreich gab, dann würde er nur zu gern seine Bürde niederlegen und mit Sari und dem geliebten Sohn dorthin ziehen, um so zu leben, wie es seiner Natur entsprach.
Ehe die Gesandten des Kaisers Otto, die zur Zeit am Hof des Kalifen von Córdoba weilten, nach Deutschland zurückkehrten, würde er vielleicht Menahem in seinem eleganten Hebräisch einen Brief an den Herrscher von Chasarien verfassen lassen und darin all die Fragen stellen, die ihn bewegten. Wenn man sie angemessen entlohnte, würden die beiden jüdischen Mitglieder der Delegation sicherlich Wege finden, dieses Schreiben an seinen Bestimmungsort zu befördern. Falls er eine befriedigende Antwort erhielte, mit welcher Freude würde er über Berg und Tal, Land und See reisen, um zu jenem Ort zu gelangen, wo der Friede und die Ruhe Israels herrschten.
20
Der Winter war streng gewesen, kälter und stürmischer als jeder andere Winter in al-Andalus seit Menschengedenken. Beim ungewohnten Anblick von Schnee, der sich wie Schaum über die milden Gärten von Córdoba breitete, rannten die Kinder vor Freude jauchzend ins Freie. Die Eltern jubelten nicht. Obwohl die seltsame Schönheit ihrer sonnigen Stadt unter der Schneedecke auch sie nicht gleichgültig ließ, schmerzte es sie doch, mit anzusehen, wie die Zypressen unter dem doppelten Angriff von Wind und Schnee hin- und herschwankten, wie die Dachziegel in rötlichen Scherben zerbarsten, wie sich Risse in dem für warme Sommer gebauten Mauerwerk zeigten. Saris größter Kummer war der Tod der Pflanzen, die sie seit den Tagen vor ihrer Heirat sorgfältig gepflegt hatte. Mit den Jahren waren sie so groß geworden, daß man sie im Garten in eine Ecke gepflanzt hatte, doch obwohl sie dort zu gedeihen schienen, überlebten sie den strengen Winter nicht.
Hais Zypresse war inzwischen vier Jahre alt, sie hatte nur wenig gelitten, da sie von den ausgewachsenen Bäumen ringsum abgeschirmt wurde. Nur ein, zwei Äste ragten hier und da wie gebrochene Gliedmaßen hervor, störten die elegante, schmale Silhouette. Sari deutete den Tod der Pflanzen des Einsiedlers als Symbol für das Ende ihrer einsamen, unfruchtbaren Jahre, das Überleben des Zypressenschößlings jedoch versprach große Dinge für Hais Zukunft. Wenn die gelehrten Männer von Córdoba an den Einfluß der Sterne auf das Leben der Menschen glaubten, warum sollte sie dann nicht überzeugt sein, daß ein anderes Geschöpf Gottes ihr etwas über die Zukunft verraten konnte? So erklärte sie es jedenfalls lächelnd Da'ud, um ihn von seinen Alltagssorgen abzulenken. Obwohl er solche Gedanken bei seinen Kollegen ungeduldig abtat, lächelte er nachsichtig über Saris Vorstellungen. Ihr Frohsinn hielt ihn stets ein wenig von seinen Grübeleien ab.
Bei den ersten warmen Strahlen des Frühlings bepflanzte Sari ihre Ecke des Gartens neu. Eines Morgens war sie gerade dort beschäftigt, als Djamila und Amira in frischen, farbenfrohen Gewändern mit strahlend bunten Seidenschärpen um die Taille auftauchten.
»Wir machen einen Spaziergang am Fluß«, rief Djamila ihr zu, während sie die Hand ihrer Tochter ergriff und mit ihr an dem kleinen Wasserlauf entlang zu einem Tor in der Mauer am äußersten Ende des Gartens eilte. Sari winkte ihnen zum Abschied nach, folgte ihnen mit traurigem Blick. Es tat ihr in der Seele weh, daß Da'ud die beiden so offenkundig verachtete. Doch er gestattete ihr nicht, das Thema auch nur anzusprechen. Vielleicht würde sich doch noch eine passende Gelegenheit ergeben, seufzte sie, während sie sich wieder ihren Pflanzen zuwandte und ein Blatt liebkoste, das noch ganz hell und zart war, gerade eben im Frühling neu geboren. Wie gut, daß sie und Djamila so verschieden waren, daß sie so mühelos in Harmonie unter einem Dach leben konnten. Sie fühlte sich zwar noch manchmal ein wenig schuldig wegen der Lage, die sich im Hause ergeben hatte, aber letztlich war Da'ud allein dafür verantwortlich, wie sich die Situation weiterentwickelt hatte. Wenn man ihn schon nicht bewegen konnte, sich seiner zweiten Frau und seiner Tochter gegenüber anders zu verhalten, dann würde wenigstens sie dafür sorgen, daß Hai und Amira als Freunde aufwuchsen.
Amira, die endlich von den Beschränkungen der Wintermonate befreit war, rannte und hüpfte neben ihrer Mutter her, nahm eine frisch gebackene goldgelbe Pastete vom Teller eines Straßenverkäufers und stopfte sie sich in den Mund, kitzelte die zuckenden Ohren eines festgebundenen Esels und bettelte um einen mit Zucker überzogenen Apfel, ehe die beiden das Getümmel des Marktes hinter sich ließen und zum Fluß hinuntergingen. Djamila wußte, daß sie dort die drei Schwestern Bar Simha antreffen würde, die im Laufe der Jahre ihre ständigen Gefährtinnen geworden waren. Die Zeit und ihre unterschiedlichen Erfahrungen als Ehefrauen und Mütter hatten die starke Ähnlichkeit ihrer jüngeren Jahre etwas zurücktreten lassen. Sitbora, die Älteste, war eine herrische, beinahe dominante Matrone geworden. Dona war zu einer nachdenklichen Seele herangereift, während Palomba, die Jüngste, die ihren drallen Busen vorstreckte wie die Taube, der sie ihren Namen verdankte, ein passives, leicht zu beeinflussendes Kind geblieben war, das sich mit allen und jedem einverstanden erklärte.
Der übliche Treffpunkt, eine Wiese unter dem großzügigen Schatten einer Akazie, war vom angestiegenen Wasser des Flusses überschwemmt, das seit der Schneeschmelze wild toste. Djamila fand ihre Freundinnen ein wenig abseits. Sie spazierten durch eine Wiese mit wilden Anemonen, die beim ersten Anzeichen des Winterendes erblüht waren und den Boden mit einem zarten roten Schimmer überzogen. Die drei redeten nicht wie gewöhnlich über die Eheschließungen ihrer Kinder, von denen sich einige bereits im heiratsfähigen Alter befanden, sondern über eine Angelegenheit, die sich im Laufe des Winters ergeben hatte. Ihre Eltern waren beide hochbetagt verstorben, Opfer der Kälte und der Feuchtigkeit geworden, denen ihre ohnehin schon gebrechlichen Körper nicht genügend Widerstand zu leisten vermochten. In seinem Testament hatte der Vater der jüdischen Gemeinde eine beträchtliche Summe für wohltätige Zwecke vererbt, hatte es aber versäumt, die Institution zu benennen, für die dieses Geld verwendet werden sollte. Die Schwestern, die darauf erpicht waren, den Ruhm ihrer Familie zu mehren und den Namen ihres Vaters zu verewigen, sprachen gerade über mögliche Nutznießer, als Djamila und Amira sich zu ihnen gesellten. Das Kind eilte sogleich, einen Strauß seidiger Anemonen zu pflücken, streichelte sich mit den weichen Blütenblättern übers Gesicht und ärgerte dann eine Gottesanbeterin, die es erbarmungslos von einem Blatt zum anderen verfolgte.