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»Ich werde vorsichtig sein«, antwortete sie mit ungewöhnlicher Gefügigkeit, während sie sich zum Gehen schickte. Er folgte ihr mit den Blicken, bewunderte das Wiegen ihrer breiten Hüften, den Stolz ihrer aufrechten Schultern. Nachdenklich starrte er in den leeren Raum, den sie zurückließ, ehe er sich mit einem resignierten Seufzer wieder seinen langweiligen und staubigen Dokumenten zuwandte.

21

Hais Spaziergänge mit dem Vater gehörten zu den größten Freuden seiner Kindheit. Der feste Griff, mit dem seine Hand umfaßt wurde, die Stärke und Kraft der geschmeidigen Schritte seines Vaters, die die Luft durchschnitten wie ein Ruder das Wasser, all das vermittelte ihm ein Gefühl felsenfester Sicherheit, das ihm weder seine nachgiebige Kinderschwester noch seine liebende Mutter geben konnte. Hai war ein stilles Kind, beobachtete schweigend, nahm alles in sich auf, sprach aber wenig. Von Zeit zu Zeit entzog er seinem Vater die Hand, beugte sich herab und hob einen Marienkäfer auf, dessen rote Flügel mit den schwarzen Punkten prächtig in der Sonne glänzten, oder er bückte sich und verfolgte den Weg einer Doppelkolonne von Ameisen, die in militärischer Ordnung von einem Krümelchen Essen zu ihrem Ameisenhaufen hin und zurück marschierten. Geduldig blieb Da'ud dann stehen und erklärte seinem Sohn die Wunder der Schöpfung, ehe sie sich zusammen wieder auf den Weg machten.

Als Hai jedoch an jenem Morgen innehielt, um eine verletzte Amsel zu betrachten, die, von Federn und einer Lache geronnenen Bluts umgeben, am Wegesrand lag und deren einziges Lebenszeichen nur noch das schwache Beben ihrer Brust war, weigerte sich Da'ud, stehenzubleiben und das hilflose Geschöpf zu untersuchen.

»Komm weiter, Kind«, befahl er knapp.

»Aber Vater, der Vogel leidet. Wenn wir ihn mit nach Hause nehmen und die Wunde versorgen, dann kann er vielleicht wieder fliegen.«

»Dazu ist es zu spät.«

»Können wir es nicht wenigstens versuchen?«

»Heute nicht«, antwortete Da'ud, packte sein Kind fester bei der Hand und zerrte den Jungen mit einer ärgerlichen Gereiztheit weg, wie er sie ihm gegenüber sonst selten zeigte.

Während Hai widerwillig weiter mitging, weinte er vor Mitleid mit dem hilflosen Geschöpf, das sein Leben aushauchte, gleichermaßen aber ließ die strikte Weigerung seines Vaters, der ihm nicht einmal einen Versuch der Rettung zugestehen wollte, seine Tränen fließen. Noch nie hatte man so ohne jeglichen Grund derart streng mit ihm gesprochen. Erst als Hai die hochaufragende Gestalt des Abu Sa'id Hatim ibn Zuhr sah, der ihnen vom Hospital her entgegengeeilt kam, wischte er sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen, und auch diese Geste entging seinem Vater an jenem Morgen.

Hai konnte nicht wissen, daß Da'ud innerlich vor Wut kochte über Djamilas Initiative, mit der sie ihn gegenüber den Schwestern Bar Simha, die er verabscheute, und seinem Sekretär, den er nicht leiden konnte, in eine unmögliche Lage gebracht hatte. Was für eine üble Situation hatte sich da in seinem Haushalt ergeben, dachte er wütend, während er mit großen Schritten voranging. Die Geburt des Kindes, das er an der Hand hielt, war das kaum noch erhoffte Ergebnis von Djamilas Anwesenheit unter seinem Dach gewesen. Aber seither war sie ihm unerträglich geworden, und so sehr er es versuchte, er empfand auch nichts für seine Tochter, die ihrer Mutter in allem so glich. Nun hatten die Dinge jedoch eine schlimmere Wendung genommen, da Djamila die Stellung mißbrauchte, die er ihr in seinem Haus zugestanden hatte, indem sie versuchte, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angingen. Schlimmer noch waren ihre offen geäußerten Ansichten zur Bildung von Mädchen. Wenn sie es sich in den Kopf setzte, derlei Gedanken auch außerhalb der sicheren Mauern seines Hauses zu verbreiten, so konnte das großen Schaden für die etablierte Ordnung der jüdischen Familie heraufbeschwören. Irgendwie mußte er ihr Einhalt gebieten. Mit solchen Gedanken beschäftigt, bemerkte Da'ud gar nicht, daß Ibn Zuhr sich näherte. Erst der vertraute Klang seiner Stimme riß ihn aus seinen Grübeleien.

»Hallo, kleiner Mann«, begrüßte der Meister gerade Hai und wuschelte ihm liebevoll durch die rostroten Locken. »Du wächst wohl gleichzeitig mit den Mauern deiner zukünftigen Wirkungsstätte heran?« Er lächelte und wandte sich dann in dringenderem Ton an Da'ud. »Gut, daß ich dich treffe. Ich wollte gerade die Stadt nach dir absuchen.«

Da'ud erstarrte. Nur ein überaus dringendes Problem konnte Ibn Zuhr bewegt haben, seinen streng geregelten Tagesablauf zu ändern und sich auf die Suche nach ihm zu begeben. Der Meister nahm Da'ud beim Arm und ging mit ihm ein Stück in die Richtung fort, die er mit Hai gekommen war. »Ich habe heute morgen der Baustelle meinen üblichen wöchentlichen Besuch abgestattet, als plötzlich Abu Bakr mit einigen seiner Schmarotzer auftauchte. Seine Anwesenheit machte mich stutzig, also verbarg ich mich hinter einer Säule und beobachtete ihn heimlich. Zunächst war er offenkundig überrascht, daß bisher nur wenig Fortschritt zu verzeichnen ist und daß auf der Baustelle nur so wenig gearbeitet wird – heute war nur die Rumpfmannschaft von Bauarbeitern anwesend. Aber nach kurzer Überlegung wich seine Verblüffung einem befriedigten Grinsen, das ich schon beinahe bösartig nennen würde, und er ging höchst erfreut fort, plauderte gutgelaunt mit seinen Schmeichlern. Da wir ihn als Meister der Intrige kennen, hielt ich es für das beste, dich gleich zu warnen. Man muß kein weltgewandter Höfling sein, um zu begreifen, daß es ihm, dem wichtigsten Steuereintreiber des Kalifen, ein Dorn im Auge sein muß, wenn du Zugriff auf den Tribut hast, den die christlichen Königreiche zahlen.«

»Äußerst ungern zahlen«, ergänzte Da'ud trocken.

»Aber es sind Gelder, von denen Abu Bakr sehr wohl behaupten könnte, daß du sie unterschlägst. Weiß irgend jemand außer mir, daß du dein eigenes Geld vorgestreckt hast, um das Bauvorhaben am Leben zu halten?«

»Meines Erachtens nicht, aber bei Palastintrigen werden Dinge verbreitet, ohne daß irgend jemand weiß, wo sie herkommen.«

»Ich will dich nicht aufhalten. Unter diesen Umständen ist Eile geboten. Gott mit dir«, murmelte der Meister, während er sich müde und mit traurig hängenden Schultern auf den Heimweg machte.

Hai mußte rennen, um auf dem Rückweg mit seinem Vater Schritt zu halten. Noch nie hatte Da'ud ihm dermaßen wenig Beachtung geschenkt. Immer hatte er bisher seine Schritte an die seines kleinen Sohnes angepaßt, nie war Hai gezwungen gewesen, das Tempo seines Vaters mitzugehen. Verwirrt über Da'uds seltsame neue Haltung, völlig erschöpft von der körperlichen Anstrengung, zu der er sich gezwungen sah, kämpfte der kleine Junge tapfer mit den Tränen, die ihm in den Augen standen. Als er jedoch die Amsel sah, die tot und starr dalag, schossen ihm Tränen in die Augen und rollten ihm über die heißen, geröteten Wangen. Kaum hatte er die Schwelle des Hauses Ibn Yatom überschritten, da ließ er die Hand seines Vaters fahren und floh in die beruhigende Sicherheit seines Zimmers, warf sich bäuchlings auf das Bett und erstickte seine Schluchzer in den Kissen, bis ihn der Schlaf übermannte.

Ohne mit irgend jemandem ein Wort zu sprechen, eilte Da'ud in sein Arbeitszimmer und nahm ein Buch zur Hand, das noch in der rauhen Leinwand eingenäht war, in der man es ihm am Vortag überbracht hatte. Er übersah seinen Sekretär vollkommen, befahl, sein schnellstes Vollblut zu satteln und legte die kurze Entfernung zwischen der Stadt und der Medina Azahara in halsbrecherischer Geschwindigkeit zurück.

Ein Ausdruck ungeheurer Erleichterung zeigte sich auf dem aufgedunsenen Gesicht des weißen Eunuchen, der den Eingang zu den Privatgemächern des Kalifen bewachte, als er Da'ud näher kommen sah. »Gerade eben wurden Boten nach Córdoba ausgeschickt, um Euch zu suchen«, sagte er mit flötender Stimme. »Ihr müßt Euch sogleich zum Kalifen begeben. Ihr findet ihn im Lesezimmer.«