Da'ud spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, wie seine Hände eiskalt und vor Angstschweiß klamm wurden. Wie naiv und gutgläubig er doch gewesen war, so geblendet von der Ehre, die ihm zuteil wurde, und von den Zukunftsaussichten, die sich ihm eröffneten, daß er gar nicht überlegt hatte, was noch hinter dem verlockenden Angebot des Kalifen steckte. Das hatte er nun von seinem übersteigerten Selbstbewußtsein und seinem überzogenen Ehrgeiz, machte er sich bittere Vorwürfe, ganz zu schweigen von seinem Mangel an Erfahrung mit der krassen Wirklichkeit der nackten Macht. Dieser brutale Absturz in eine grausame und fremde Welt hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Er hatte immer nur das beschauliche Leben des Lernens gekannt, war von Menschen umgeben und geschützt gewesen, die nach nichts anderem trachteten, als ihm bei seinen Unternehmungen zu helfen und Ermutigung zu schenken. Ihm war Abd ar-Rahmans Vorschlag nur als eine reibungslose und ganz natürliche Fortsetzung dieses Weges erschienen, als das Angebot eines geschützten, privilegierten Bereichs fern von allen Machtspielen, vom schmutzigen Wechselspiel der Interessen, von Verdacht, Intrigen und niedrigem Verrat. Eine gefährliche Illusion, das wurde ihm nun klar. Bei Hof hatte alles seinen Preis. Wie leicht hatte er sich täuschen lassen! Und doch, versuchte er sich zu rechtfertigen, hätte auch ein Mann mit weit feinerem Gespür wohl das Ausmaß der Gefahr nicht erkannt, die hinter der Gunst des Kalifen lauerte. Welche Art des Ungehorsams hatte den Heilkundigen eine solch grausame Strafe beschert? Und was lag hinter Abd ar-Rahmans übertriebenem Interesse am Großen Theriak? Die Diskretion, die sowohl er als auch sein Vater hatten geloben müssen, ließ darauf schließen, daß ihm ein weit mächtigeres Motiv als nur wissenschaftliche Neugier oder Ehrgeiz zugrunde lag. Es mußte sich um ein lebenswichtiges Interesse handeln. Warum war dann die Wahl auf einen unerprobten und unbekannten Gelehrten wie ihn gefallen? Doch all diese Überlegungen verblaßten vor der einen, fatalen Frage: Was hieß ›binnen kürzester Zeit‹?
Alle Sinne Da'uds waren nun wach und höchst konzentriert. Ganz streng trennte er seine Gedanken von seinen Gefühlen. Unter keinen Umständen durfte er zulassen, daß die Furcht sein klares Denken trübte. Hatte er einen Monat, sechs Monate, ein Jahr Zeit? Das Risiko war so beängstigend, daß er es für weise hielt, besser nicht danach zu fragen und so die Festlegung eines unverrückbaren Termins herauszufordern. In der Zwischenzeit würde vielleicht der Zorn des Kalifen auf seine Leibärzte schwinden, wichtigere Dinge würden seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und wenn er, Da'ud, bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf Schwierigkeiten stieß, würde er all seine Gewitztheit aufbringen und Zeit schinden … Er hatte keine Wahl. Ein treuer Untertan schlägt seinem Herrscher keine Bitte aus. Er konnte sein Wort nicht zurücknehmen, ohne die glänzende Zukunft zu gefährden, die zum Greifen nah vor ihm lag. Er mußte das Risiko eingehen, wie unangemessen hoch es auch immer schien …
»Morgen werdet Ihr beim Verwalter des alten Palastes von Córdoba vorstellig, der die Zahlung Eurer Vergütung in die Wege leiten wird. Er wird Euch auch freien Zugang zur Palastbibliothek verschaffen, die zum Nutzen unserer erhabenen Gelehrten in der Stadt verbleiben soll.«
Eine beinahe unmerkliche Bewegung des mit Juwelen geschmückten Zeigefingers des Kalifen gab Da'ud zu verstehen, daß er nun entlassen war. Mit bemühter Ruhe verließ er den Raum und ging mit festen Schritten unter den wachsamen Augen der schwarzen Eunuchen, die ihn begleiteten, durch die vielen riesigen Innenhöfe und eleganten Torbögen, die aus dem Palastbezirk hinausführten. Erst als er wieder innerhalb der schützenden Stadtmauern Cordobas war, wagte er, die selbstbewußte Miene, die er aufgesetzt hatte, ein wenig zu lockern und die widerstreitenden Gefühle an die Oberfläche zu lassen, die in ihm tobten. Der Kopf schwirrte ihm beim Gedanken an die Zukunft, die vor ihm lag, wenn er Erfolg hatte, der Magen drehte sich ihm um vor Furcht, wenn er an die Folgen eines Scheiterns dachte. Doch allmählich drang auch der vertraute Anblick der lebendigen Stadt zu seinem Bewußtsein vor, ihre Geräusche und Gerüche, die so sehr zu ihm gehörten wie die zarte Oberfläche antiker Manuskripte. Diese Eindrücke ließen seine innere Unruhe abklingen und brachten ihn in die tröstliche Wirklichkeit seines früheren Lebens zurück. Doch gerade als er sich seinem Zuhause näherte, trug die Morgenbrise wieder die kehligen Schreie der Palastwachen an sein Ohr, die ihre grausigen Schreckensobjekte ringsum auf dem Marktplatz zur Schau stellten, und noch einmal überliefen ihn die Schauder der Furcht.
Als er in die Sackgasse einbog, die zum Haus der Ibn Yatoms führte, sah er auf der Schwelle die schmale Gestalt seines Vaters, der ängstlich auf seine Rückkehr harrte. Die beiden umarmten einander in schweigendem Mitgefühl und sprachlosem Verständnis.
»Kein Wort von alledem zu deiner Mutter«, warnte Ya'kub seinen Sohn, wobei aller Stolz, den er über die unerwartete Gunst des Hofes empfunden hatte, vor dem Wissen über die Bedrohung, die über seinem Sohn schwebte, geschwunden war. »Ich habe ihr nicht gesagt, wer die Opfer des Kalifen diesmal waren, um ihr unnötige Sorgen zu ersparen. Warum sollten wir sie beunruhigen, da doch dein Erfolg nicht in Zweifel steht? Spiele ihr nur eitel Stolz und Freude vor. Das soll zugleich deine erste Lektion in der Kunst der Täuschung sein, einer Kunst, die du dir aneignen mußt, wenn du in den Korridoren der Macht überleben und gedeihen willst.«
3
Da'ud ging in die Hocke, reckte den Rücken gerade und streckte müde die Arme von sich. Seit dem frühen Morgen kniete er hier in der Bibliothek des Sultans in einer abgeschiedenen Ecke auf einem Stapel Kissen, war über die in Leder gebundenen Folianten gebeugt, die sich vor ihm auf einem niedrigen Tisch auftürmten. Eine Sondergenehmigung erlaubte ihm, die Bibliothek auch an einem Freitag zu betreten. Nun war er dort allein mit dem alten wachhabenden Christen in dem großen mit Zedernholz getäfelten Raum. Eher um der Vollständigkeit willen als in der Hoffnung, irgend etwas Wichtiges für seine Studien zu erfahren, hatte er begonnen, die berühmten arabischen Fassungen der Schriften des Hippokrates und des Galen zu studieren, Übersetzungen, die Hunayn ibn Ishaq und Ali ibn Rabban al-Tabari vor beinahe einem Jahrhundert in Bagdad angefertigt hatten. Seit Jahren hatte er sich schon gewünscht, einmal auch nur einen flüchtigen Blick auf die reich illustrierten Abschriften in der Palastbibliothek werfen zu dürfen, aber nun hatte er nicht viel Zeit, die winzigen, an Teppichmuster gemahnenden Verzierungen zu bewundern, die zart wie ein Frauenschleier den Anfang jedes Abschnittes schmückten.
Ohne große Mühe fand er die Passagen, die sich mit Gegengiften beschäftigten, aber als er auf die Liste der Zutaten für den Großen Theriak stieß, stand er vor der gleichen undurchdringlichen Mauer wie all die anderen Gelehrten, die ihm vorangegangen waren. Die abgegriffenen Spalten dieser Abschnitte legten ein beredtes Zeugnis darüber ab, wie viele Finger sie auf der Suche nach dem gleichen unergründlichen Geheimnis schon betastet hatten. Ein Vergleich mit den griechischen Originalen erwies sich als praktisch unmöglich, so alt, abgegriffen und verblaßt waren die Abschriften in der Bibliothek. Doch selbst wenn sie sich in einem besseren Zustand befunden hätten, sie hätten ihm nur wenig genutzt, das wußte Da'ud. Was konnte er wohl zu entziffern hoffen, das Hunayn und al-Tabari nicht bereits erfaßt hatten? Beide gaben eine sehr ähnliche Liste von Zutaten: Opium, nach strengen Vorschriften gekochtes Schlangenfleisch, sowie achtunddreißig Gewürze und Kräuter, darunter frisches Salz und feuchter Dill. Beide berichteten, daß zwei Zutaten noch nicht identifiziert werden konnten, wobei Hunayn schrieb, er wisse nicht, auf welche Pflanze sich die griechischen Worte bezögen. Andererseits hatte al-Tabari einige Jahre in Persien gelebt und merkte an, das griechische Wort Vatermörder sei im Sanskrit motscha. Sonst nichts. Auch bei der zweiten Pflanze war Hunayn wenig hilfreich, aber al-Tabari machte die Angabe handakuka, ebenfalls ohne jegliche weitere Erklärung. Methodisch durchforstete Da'ud alle anderen Abschnitte der Übersetzung und suchte dabei nach weiteren Bezügen auf die beiden Zutaten oder auf deren Eigenschaften, aus denen sich vielleicht auf deren Art und Gattung schließen ließe. Aber vergebens.