Er rieb sich die müden, roten Augen, stand auf und ging zum anderen Ende des dunklen Gemachs, um den Wächter der kostbaren Manuskripte der Bibliothek zu finden. Der spindeldürre, weißhaarige alte Mann saß im Schneidersitz auf einem Seidenkissen in der Nähe der großen Holztür, sein Kopf baumelte im Schlummer der Alten hin und her. Plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt, erhob sich der Wächter langsam und entschuldigte sich wortreich für seine Unaufmerksamkeit.
»Ich würde mir gerne al-Kindis Pharmakologie ansehen, falls sie vorhanden ist.«
Das, hatte Da'ud beschlossen, sollte die letzte gelehrte Schrift sein, die er befragen wollte. Wenn auch sie, wie er erwartete, keine neuen Erkenntnisse brächte, müßte er seine akademischen Recherchen beenden und sich unkonventionelleren Forschungsmethoden zuwenden.
»Kommt mit, junger Mann. Das Manuskript liegt in einem der unteren Kästen, und meine alten Knochen sind zu steif, als daß ich mich so weit hinunterbeugen könnte.«
Die Scharniere des fein geschnitzten Deckels quietschten, als Da'ud ihn anhob und sich hinabbeugte, um den Band herauszunehmen, auf den der alte Mann deutete. Aber als er das machte, fiel sein Blick auf ein dünnes Pamphlet, das kaum erkennbar unter einer dicken Staubschicht am Boden des Kastens lag.
»Was ist das?« fragte er, hob es auf und pustete den Staub herunter, ehe er die Titelseite vor die kurzsichtigen, wäßrigen Augen des Wärters hielt. Der blinzelte auf die säuberliche, aber schmucklose Kalligraphie und antwortete: »Das ist ein altes Werk von Qusta ibn Luqa, einem minderen Gelehrten, um dessen Meinung sich heute niemand mehr schert.«
»Darf ich es einmal ansehen?«
»Wenn Ihr es wünscht«, antwortete der Alte und schlurfte zu seinem Kissen zurück.
Da'uds Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen. Er eilte zu seinem Platz zurück und schlug das längst vergessene Werk auf dem Tisch auf. Wie in den antiken Arbeiten, die er studiert hatte, war auch hier ein Abschnitt den Gegengiften gegen Schlangenbiß gewidmet, und auch hier wurde eine Liste mit den Zutaten für den Großen Theriak aufgeführt. Obwohl die Schrift kaum leserlich war, schien sie doch beinahe genau den Listen des Hunayn und des al-Tabari zu entsprechen. Allerdings stand bei der letzten Gruppe von Pflanzenarten ein Name, neben dem zwei Zeilen in kleinerer Schrift eingefügt waren, nicht von der gleichen Hand geschrieben und mit einem rechteckigen Rahmen umgeben. Den Namen entzifferte er recht schnelclass="underline" Vatermörder! Da'uds Finger bebten vor Erregung, als er das Büchlein näher zum Fenster schob, so daß das Licht unmittelbar auf die beiden hinzugefügten Zeilen fiel. Sie waren mit einer schlechteren Tinte zu dem restlichen Manuskript hinzugefügt worden, und die Buchstaben waren nur noch sehr schwach zu sehen, waren beinahe unsichtbar. Er zwang sich zur Ruhe und begann mit unendlicher Geduld mit dem Zeigefinger die Längen und Kurven der Buchstaben nachzufahren, die er schwach ausmachen konnte, fuhr sie mit einer natürlichen Bewegung nach, als schriebe er selbst. So hoffte er die fehlenden Zeichen zu erraten, die, wenn er sie einmal entziffert hatte, eine Beschreibung der Pflanze ergeben mußten.
Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er nicht hörte, wie sich der Wächter genähert hatte. »Es ist Zeit zu gehen. Bald bricht die Abenddämmerung herein, und Ihr werdet nicht mehr genug Licht haben. Außerdem fängt bald Euer Sabbat an«, fügte er noch hinzu.
»Nur noch ein kleines bißchen«, murmelte Da'ud, ohne den Kopf zu erheben, »bis das Licht ganz erloschen ist.«
»Nun gut«, stimmte der Alte widerwillig zu, »aber keinen Augenblick länger. Kerzen sind hier verboten. Aber sagt mir, was ist für Euch von solchem Interesse, daß Ihr sogar bereit seid, Euren heiligen Sabbat dafür zu schänden?«
»Persisch«, murmelte Da'ud, den Kopf immer noch über den Text gebeugt. »Ein Freund meines Vaters aus Kindertagen, ein Kaufmann aus Esfahan, braucht dringend die Namen bestimmter Heilmittel, die ihm mein Mentor gegen seinen trockenen Husten verschrieben hat, der ihn manchmal sogar Blut spucken läßt. Er will sich unmittelbar nach dem Sabbat auf den Heimweg machen, und ich habe versprochen, ihm nach bestem Können zu helfen.«
»Und dafür hat man Euch eine Sondergenehmigung zum Betreten der Palastbibliothek sogar am Freitag gewährt?«
»Mein Vater, das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde von Córdoba, hat hervorragende Beziehungen zum Verwalter.«
Mit dieser Erklärung gab sich der alte Mann zufrieden. Er schlurfte davon, setzte sich stillschweigend noch eine Weile auf sein Kissen und kam dann, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, zurückgeschlurft.
»Da Ihr danach trachtet, das Leiden eines Kranken zu lindern, könnte ich vielleicht die Regeln ein wenig beugen und Euch eine Kerze bringen, aber nur für sehr kurze Zeit.« Er trat eine Weile unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, ehe er fortfuhr: »Wenn Ihr später wieder einmal in die Bibliothek zurückkehren solltet, könntet Ihr vielleicht Euren Mentor nach einem Heilmittel für meine schmerzenden Gelenke fragen.«
»Ich kenne selbst ein einfaches Heilmittel für Eure Schmerzen«, erwiderte Da'ud rasch, gleichermaßen aus dem echten Bedürfnis heraus, zu helfen, wie auch, um die freundliche Geste des Mannes zu erwidern. »Nehmt Taubenkot, zermahlt ihn zu Staub und filtert ihn, und dann legt ihn als Umschlag auf, wo immer ihr Schmerzen empfindet. In manchen Fällen erweist sich dies als außerordentlich wirksam, aber zusätzlich dürft Ihr nur leichte Speisen essen und müßt Eure Gliedmaßen bewegen, jeden Tag ein wenig mehr.«
»Gott segne Euch, junger Meister«, murmelte der alte Mann, dem Tränen der Dankbarkeit in den längst blaß und wäßrig gewordenen Augen standen. Doch seine Schritte schienen plötzlich leichter, und er eilte davon, um Da'ud eine brennende Kerze zu bringen.
Als er wiederkehrte, tanzten die winzigen Arabesken bereits vor Da'uds Augen, aber es war nur noch eine halbe Zeile zu entziffern. Er richtete sich noch einmal auf, ehe er sich wieder über den Text beugte und die Kerze darüber hielt, in einem letzten verzweifelten Versuch, dem Manuskript sein Geheimnis abzuringen. Schließlich zog er einen Fetzen Papier aus der Tasche und schrieb das Ergebnis seiner Suche auf:
Früchte … [– – –] vor … Sprossen
Es war nicht viel, aber der Anfang war gemacht.
Er stand auf, reckte sich noch einmal, blies die Kerze aus und ging mit raschen Schritten auf die Tür der Bibliothek zu. Dort dehnte der Wächter vorsichtig seinen rechten Arm von sich weg. »Wenn ich das nächste Mal komme, könnt Ihr diesen Ellbogen ausstrecken«, sagte Da'ud lächelnd zu dem alten Mann, während er ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte, ihm die Kerze reichte und ihm eine gute Nacht wünschte, ehe er in die laue Abendluft trat. Auf dem Nachhauseweg holte Da'ud seinen Vater ein, der vom Vorabendgebet des Sabbat zurückkam. Obwohl er kein tief religiöser Mann war, hatte Ya'kub ibn Yatom doch immer darauf bestanden, daß sein Sohn ihn in die Synagoge begleitete, die er selbst der jüdischen Gemeinde von Córdoba zum Geschenk gemacht hatte. An diesem Abend jedoch enthielt er sich in dem gleichen wortlosen Einverständnis, das er seinem Sohn bereits gezeigt hatte, jeden Kommentars über dessen Abwesenheit beim Gottesdienst.