»Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nicht. Das einzige, was ich will, ist Macht, Macht, die ich ausüben will, um all die zu schützen, die mir lieb und teuer sind. Wo immer Macht ist, ich werde sie suchen und mir meinen Anteil daran sichern.«
»Aber wo liegt die Macht? Gestern bei den Slawen, die Córdoba im Namen des Kalifen regierten, heute bei den Berbern, morgen bei den alteingesessenen arabischen und muslimischen Andalusiern von Sevilla. Die dort aufstrebende Dynastie der Abbaditen wird nicht lange untätig dasitzen und zusehen, wie sich die Berber die Überreste des Kalifats einverleiben.«
»Das ist gerade mein Dilemma.«
Es war ein Dilemma, das zu lösen Amram keine Gelegenheit bekommen sollte. Am nächsten Morgen, als die beiden Brüder ausritten, um in der Umgegend nach Essen zu suchen, überholte sie auf dem Weg der Berberführer, dessen Wunden Natan behandelt hatte.
»So treffen wir uns also wieder, junger Mann. Und wer ist das?« fragte er mißtrauisch und wies mit einer knappen Kopfbewegung auf Amram.
»Mein Bruder«, erwiderte Natan und konnte seines Schreckens kaum Herr werden. Der Berber kniff drohend die Augen zusammen, eine Hand am Dolch, während er nach einer Familienähnlichkeit suchte, die Natans Worte bestätigen könnte. Sie hatten weniger ihre Gesichtszüge gemein als ihre unverwechselbare noble Haltung, das überzeugte den Berber schließlich. »Ist er ein ebenso geschickter Arzt wie Ihr?«
»Nein«, antwortete Amram an Natans Stelle. »Nur ein bescheidener Handelsmann.«
»Und doch habt Ihr eine geschickte Zunge.«
»Wie mein Bruder habe ich an den Akademien von Córdoba die beste Erziehung genossen.«
»Das ist offensichtlich. Und da Ihr der Bruder des Mannes seid, der mir das Leben gerettet hat, wäre es unehrenhaft, Euch ein Leid anzutun. Allah erinnert mich daran, Euch mit mir nach Granada zu nehmen, wo der Anführer meines Sinhaja-Stammes herrscht. Ein Jude von Eurer Bildung und ohne ehrgeizige Landgier könnte für uns von unschätzbarem Wert sein. Kommt, laßt uns zusammen fortreiten.«
37
Als die Gipfel der Sierra Nevada weiß am Horizont erschienen und einen sagenhaft schönen Hintergrund für die sanft gewellten Hügel, die ausgedehnten Olivenhaine und die üppig belaubten Weinberge boten, die sich zu beiden Seiten erstreckten, hatte Amram eine so klare Vorstellung davon, was sein Retter und Geiselnehmer von ihm erwartete, wie das in diesen unruhigen Zeiten nur möglich war. Abu Ali Hamid ibn Abi war, das wurde schon bald offensichtlich, der oberste Steuereinnehmer des Berberprinzen von Granada, Zawa ibn Ziri. Als Sprößling aus dem tunesischen Königshaus war Ibn Ziri ursprünglich an der Spitze einer Gruppe von Männern aus dem Stamme der Sinhaja nach Spanien gekommen, um im Sold von al-Mansur seinen Dienst zu leisten. Als aber das Omaijadenreich zerfiel, hatte er nicht lange gezögert und seinen Vorteil aus den Unruhen gezogen. Während kriegerische Berberstämme erbarmungslos Druck auf die Stadt Córdoba ausübten und ein Marionettenkalif den nächsten auf dem Thron ablöste, gelang es Zawa ibn Ziri, die Herrschaft über das gesetzlose Gebiet Granada an sich zu reißen. Doch trotz seiner beträchtlichen Errungenschaften zeigte er keinerlei Bestrebungen, in einem Land, das nicht sein eigenes war, Wurzeln zu schlagen. Ihn gelüstete es nach der Macht in Tunesien.
»Sobald die Zeit reif ist, kehrt unser Herrscher in sein Heimatland zurück«, vertraute Abu Ali seinem Gefährten und Gefangenen an. »Auf diesen Tag müssen wir gut vorbereitet sein. Unter all den Prinzen in Zawa ibn Ziris Gefolge ist sein Neffe Habbus ibn Maksan derjenige, der am besten zum Regieren geeignet ist. Er ist ein wilder Krieger, er ist ehrgeizig, und er scharrt schon ungeduldig mit den Füßen. Er möchte zumindest einen Anschein von Ordnung in die Verwaltung von Granada bringen, und er brennt darauf, die benachbarten Gebiete zu erobern, um unsere eigenen Ländereien zu sichern und zu vergrößern. Aber sein Endziel ist es, eine Militärmacht zu schmieden, die in der Lage wäre, die aufstrebende Macht der Abbaditen in Sevilla herauszufordern.
Einem Mann von Eurer Intelligenz muß ich nicht erklären, daß Geld, viel Geld, der Schlüssel zu diesem ehrgeizigen Plan ist. Um das zu erhalten, müssen wir ein wirksames System zum Eintreiben der Steuern einrichten. Es reicht nicht aus, daß jeder Bewohner unserer Gebiete sein Soll erfüllt. Wir müssen auch dafür sorgen, daß das eingenommene Geld wirklich in unseren Truhen landet und nicht in denen der Steuereintreiber. Diese raubgierigen Schwindler erpressen ungeheure Summen von den reichen Händlern der Stadt, wenn es sein muß mit vorgehaltenem Messer, aber sie geben dem Kämmerer nur einen Bruchteil dessen ab, was sie eingesammelt haben. Es versteht sich von selbst, daß sie zu faul sind, auch aufs Land hinauszureiten, um dort die Steuern von den Bewohnern der Außenbezirke zu fordern. Das, junger Mann, ist die Aufgabe, die ich Euch zu übertragen gedenke«, schloß Abu Ali in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Inzwischen näherten sich die beiden Männer den Mauern der Berberstadt mit ihren eckigen Türmen. Am Westtor trennten sich ihre Wege. Der Wesir wandte mit einem Aufstieben rötlicher Erde sein Roß in Richtung Königspalast an den oberen Hängen des Albaicin, während Amram weiter in Richtung Süden über den Darro ritt und dann über das freie Gelände zum Judenviertel.
Dunkle, neugierige und ein wenig mißtrauische Augen folgten dem Fremden, als er in die enge Hauptstraße des Viertels einbog. Er beachtete sie nicht, sondern ritt langsam weiter, besah sich aufmerksam die planlos angelegten Werkstätten und schattigen Läden, in denen Gold- und Silberschmiede, Seidenhändler, Sattler und Lederarbeiter, die die Soldaten mit Schilden und Helmen versorgten, eifrig ihrem Gewerbe nachgingen. Beim Anblick Amrams beschlich die Juden von Granada ein ungutes Gefühl. Von seiner aufrechten, kräftigen Gestalt, von der Ausstrahlung gezügelter Macht und fester Entschlossenheit ging etwas aus, das ihnen eine unbehagliche Mischung aus Furcht und Respekt einflößte.
Vor dem größten Juwelierladen stieg Amram vom Pferd. Nachdem er eingetreten war, empfahl er sich mit Grüßen des bekannten Juweliers aus Málaga, Joseph ibn Aukal, und erkundigte sich, ob im Viertel ein Haus zu mieten sei. Seine Aussprache war so elegant, seine Haltung so gebieterisch, daß der Händler, sich halb verbeugend vor Aufregung und Verlegenheit, erwiderte, ja, ja, natürlich. Wie überaus glücklich diese Fügung für beide war. Sein Vater war kürzlich verstorben, und er hatte gerade seine Mutter zu sich genommen. Also stand das frühere Zuhause seiner Eltern nun zur Verfügung. Er würde sich geehrt fühlen, es dem geschätzten Herrn zu zeigen und ihn als Mieter zu begrüßen. Die Bediensteten im Hause würde er kostenlos dazugeben, fügte er hinzu, unterwürfig, aber nicht ohne einen Hauch Schläue.
Ein zufriedenstellender Anfang, dachte Amram, während er Ibrahims wendiger Gestalt ins helle Tageslicht folgte. Es stimmte, das Herrschaftsgebiet der Berber war noch relativ klein, aber wenn Abu Ali mit seinen Voraussagen recht behielt, und er neigte dazu, dem Mann Glauben zu schenken, dann war Granada dazu bestimmt, zu großen Höhen aufzusteigen – und er mit dieser Stadt.
Der träge Diener, den er geerbt hatte, brauchte beinahe bis zum Abend, um ihm eine Mahlzeit zuzubereiten und aus dem bescheidenen Anwesen den muffigen Geruch der Verwahrlosung und des Alters zu vertreiben, der in alle Wände eingesickert war. Erst dann, als alles ringsum sauber und ruhig war, konnte Amram über das Schicksal des Hauses Ibn Yatom nachdenken. Schon vor der Zerstörung Córdobas war das Vermögen, das sein Großvater Da'ud angehäuft hatte, beträchtlich geschrumpft: sein Vater, dem nichts an weltlichen Gütern lag, hatte immer wieder großzügig Geld ausgegeben, um sicherzustellen, daß seine Familie gut lebte und seine Söhne von den besten Gelehrten Córdobas unterrichtet wurden. Was noch übrig war, hatten die Berber sich genommen, als sie das Haus vor der Stadt und das Anwesen in der Stadt plünderten, ehe sie es niederbrannten. Jetzt war er das Oberhaupt der Familie und hatte somit zwei große Verpflichtungen. Die erste war, die Familie wieder vermögend zu machen, als Vorsorge für Unruhen in der Zukunft. Mit der zweiten hatte er bereits in Málaga begonnen, aber jetzt, nach der Tragödie der Familie, war sie wesentlich dringlicher geworden. Es war an der Zeit, daß er sich eine Frau suchte, um den Fortbestand des Hauses Ibn Yatom zu sichern, das Da'ud und Hai zu solchem Ruhm geführt hatten. Wenn ihm das Schicksal hier in Granada hold war, wären vielleicht schon bald beide Ziele in greifbarer Nähe …