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Was mochte ihn aufhalten? Sie konnte sich nur zwei Möglichkeiten vorstellen, und eine war so unwahrscheinlich wie die andere. Die erste war, daß Abu Ali ihn hatte ehren wollen und ihn zu einer ausgedehnten Mahlzeit eingeladen hatte. Vielleicht lag er gerade jetzt auf seidenen Kissen, einen Kelch mit Wein in der einen Hand, und liebkoste mit der anderen die Brüste einer üppigen Kurtisane, die ihm sein Gastgeber als Teil seiner Gastfreundschaft angeboten hatte …

Die andere Möglichkeit war, daß ihm, Gott bewahre, Räuber auf dem Weg zum Palast aufgelauert hatten, ihn brutal ermordet und ihm das Vermögen geraubt hatten, das er mit sich führte. Vielleicht lag gerade jetzt seine Leiche verlassen auf den Wiesen zwischen dem Judenviertel und dem Albaicin, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Aber es kreisten keine Geier in der Luft. Hatten seine Mörder den Leichnam in den Fluß geworfen, um alle Spuren zu tilgen?

In der Abenddämmerung senkte sich gerade ein zartvioletter Schleier über die Ebene unten, und Leonora überlegte, ob sie Diener ausschicken sollte, um nach ihm zu suchen. Aber wohin? Wenn er irgendwo in der Umgegend tot am Wegesrand lag, dann hätten ihn schon längst die Raubtiere gefunden und weggeschleppt. An den Fluß? Die Strömung hätte ihn schon längst viel zu weit mitgerissen. In den Palast? Es wäre zumindest unhöflich, schlimmstenfalls ungehörig, ihn dort zu belästigen. Sie suchte verzweifelt nach einer Lösung, wie sie ihn finden könnte, als sie einen Boten aus dem Palast erspähte, der auf das Haus zugeritten kam. Sie schrieb alle Anstandsregeln in den Wind und rannte ihm entgegen, aber auf die Nachricht, die er ihr überbrachte, war sie völlig unvorbereitet.

Ihr Gatte, berichtete ihr der junge Mann, saß im Kerker der Festung Albaicin gefangen. Gegen ihn sei die Anschuldigung erhoben worden, er habe Gelder unterschlagen, die dem Kämmerer Zawa ibn Ziri zugestanden hätten.

»Das kann nicht wahr sein!« rief Leonora. »Das kann nicht sein!«

»Mein Herr Abu Ali glaubt auch nicht daran, aber bei Hofe sind üble Gerüchte über Euren Mann in Umlauf gebracht worden.«

»Von wem?«

»Das kann ich Euch nicht sagen.«

Der Bote begleitete Leonora zurück zum Haus, und da nun seine Aufgabe erfüllt war, wollte er aufbrechen. Sie hielt ihn aber zurück und bat ihn hinein. Mit einer Kaltblütigkeit, die ihn sprachlos machte, ging sie durch den Salon und den Garten, verschwand in einem der Gemächer ihres Gatten und kehrte wenige Augenblicke später mit einem prall gefüllten Lederbeutel zurück. Sie entnahm ihm fünf Golddinare, die sie dem jungen Mann in die Hand drückte. »Das ist für Euch. Die Börse ist für meinen Mann. Wenn Ihr wiederkehrt und mir einen Beweis dafür bringt, daß er sie erhalten hat, bekommt Ihr noch einmal den gleichen Betrag. Nun geht!«

Leonora folgte ihm mit Blicken, wie er durch das Judenviertel ritt, über die Felder zum Fluß und weiter, über die Brücke. Seine Gestalt war nur noch so groß wie ein Stecknadelkopf, verschwand dann an den Hängen des Albaicin, auf dessen Gipfel die Festung lauerte, nur einige Schritte vom Palast entfernt. Erst jetzt gestattete sie sich Tränen.

Doch Tränen, ermahnte sie sich, als ihre Schluchzer verklungen waren, Tränen würden die Gitter von Amrams Gefängnis nicht sprengen. Das Geld, das sie ihm geschickt hatte, könnte ihm vielleicht ein wenig Rücksicht von Seiten seiner Wärter erkaufen, aber nicht die Freiheit. Dazu mußten andere Mittel eingesetzt, andere Menschen beeinflußt werden. Aber wie? Abu Ali hatte Amram stets überschwenglich gepriesen, wenn er von seinen Rundritten nach Granada zurückkehrte. Waren das nur hohle Phrasen gewesen? Oder hatte ein Rivale im Palast, irgendein schlauer Andalusier, der Bitterkeit über das Eindringen des Juden in seine Domäne verspürte, ihn bei Berbern in Mißkredit bringen wollen? Als Frau hatte sie keine Möglichkeit, in das trügerische Gewirr von Intrigen einzudringen, in dem die Männer im Gefolge des Prinzen ihren Weg fanden. Sie hatte keine Menschenseele, die sie um Rat fragen, niemanden in der Stadt, dem sie sich anvertrauen konnte. Also nahm sie Feder und Papier und schrieb eine kurze Botschaft an ihren Vater. Darin teilte sie ihm mit, was geschehen war, und bat ihn, ihr unverzüglich zu Hilfe zu eilen. Nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes stand sie in der Morgenröte auf und schickte einen Boten nach Málaga.

Mit einer Fassung, die allen Menschen ihrer Umgebung große Bewunderung abverlangte, wartete Leonora die Woche ab, bis ihr Vater sie erreichte. Aber in dem Augenblick, als er ins Haus trat, brachen all ihre aufgestauten Gefühle aus ihr heraus. »Du mußt mir helfen, ihn zu befreien, du mußt!« kreischte sie hysterisch und warf sich ihrem Vater an den Hals. »Irgend jemand im Palast hat gegen ihn intrigiert. Wer es auch ist, wir müssen einen Gegenplan schmieden, der ihn ruiniert.«

»Beruhige dich, mein Kind. Beruhige dich«, flüsterte Joseph ibn Aukal und streichelte seiner Tochter über den Kopf, ehe er sich aus ihrer heftigen Umklammerung löste. »Nun, du hast mir noch nicht einmal Zeit gelassen, dein wunderschönes Zuhause zu bewundern«, bemerkte er entspannt und anscheinend völlig ungerührt, während er seine Blicke schweifen ließ.

»Später, Vater, später!«

»Es besteht kein Grund zur Panik, mein kleines Mädchen. Ich habe die Angelegenheit gründlich bedacht und meine eigenen Schlüsse gezogen. Meiner Meinung nach liegt der Ursprung des Gerüchts überhaupt nicht im Palast.«

»Unsinn!« rief Leonora und tat seine Worte ungeduldig ab. »Weder Amram noch ich selbst haben je irgendeiner Seele hier ein Sterbenswörtchen über Amrams Tätigkeit gesagt. Alle halten ihn für einen Händler, der viel in Geschäften unterwegs ist.«

»Das mag sein«, antwortete Joseph, weigerte sich aber, darauf einzugehen. »Und jetzt, wärst du so freundlich und würdest für deinen Vater, der von der Reise ermüdet ist, ein Bad vorbereiten lassen?«

Erfrischt streckte sich Joseph im kühlen Schatten des geräumigen Salons auf einem Diwan aus und nippte an seinem Wein, während seine Tochter ihm gegenüber nervös am Rand eines Stapels von Kissen saß. Unermüdlich knabberte sie Süßigkeiten, die man ihnen vorgesetzt hatte, und ihre eisblauen Augen blickten ihn durchdringend an. Schließlich brach er sein Schweigen.

»Wo bewahrt dein Mann seine Dokumente auf?«

»Ich nehme an, in der Zedernholzdose in seinem Arbeitszimmer.«

»Ich muß sie durchsehen. Wenn mein Verdacht über den Ausgangspunkt dieser Verschwörung gegen ihn stimmt, dann muß ich ein bestimmtes Papier finden, um meinen Standpunkt unwiderlegbar zu beweisen.«

»Nur Amram hat einen Schlüssel dafür.«

»Dann breche ich das Schloß auf«, sagte Joseph ganz ruhig.

»Aber Vater …«

»Komm, komm, mein Kind, wir haben jetzt keine Zeit mehr für Nettigkeiten. Dein Mann sitzt im Gefängnis, ist ein Gefangener in den Händen von Menschen, denen an einem Menschenleben nicht besonders viel liegt. In einem solchen Fall sind alle Mittel heilig. Bringe mir sofort das Kästchen.«

Der Juweliermeister war nicht unvorbereitet gekommen. Aus der robusten Reisetasche, die neben ihm am Boden stand, zog er ein Stück feinen Kupferdraht hervor, und mit der Geschicklichkeit seines Berufsstandes öffnete er rasch das Schloß. Ruhig und methodisch ging er die Dokumente durch, die das Kästchen enthielt, und legte sie dann zur Seite. Leonora stand ganz nah bei ihm, und ihr Herz sank, als er ein nutzloses Dokument nach dem anderen weglegte.