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Nun kommt zu der Tochter abermals die Mutter und spricht:»Für dich!«

Sie klingt beinah ein bisschen schadenfroh, vielleicht auch nur froh, schwer zu sagen, allerdings nicht verwundert. Ich bins jedenfalls. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, wer mich anruft, noch nicht mal recht, dass mich jemand anruft. Ich bequeme mich zum Telefon, das mit dem danebengelegten Hörer irgendwie verletzt wirkt, verrenkt, seiner ursprünglichen Einheit schauerlich entfremdet, und nur eine spiralige Sehne hält die beiden Teile noch zusammen. Wie eine abgerissene Extremität hebe ich vorsichtig den Hörer auf, er ist noch warm, und etwas Lebendiges rauscht in ihm, dazwischen plötzlich eine undeutliche Stimme:»Willst du rüberkommen?«

Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass es Ellas Stimme ist, die mich da zu ich weiß nicht was einlädt, zu sich jedenfalls, und ich war noch nie bei ihr. Irgendwie ist mir nicht ganz wohl dabei, was denkt die sich eigentlich: da redet man einmal mit ihr, und schon belästigt sie einen — durchs Telefon kommen im Grunde nur Belästigungen — , und offenbar mit dem höchst zweifelhaften Ansinnen, sich mit mir — anzufreunden, oder was? Von ihrer Erklärung, so was soll es wohl sein, kriege ich nur noch mit:»… und da haben wir eben gedacht, du könntest doch auch, also, na ja, rüberkommen«, sie kichert ein bisschen. Ich komm da nicht ganz mit.»Wer ist denn ›wir‹?«

«Na ich und — Paul.«

«Okay, Ella, bis gleich!«, höre ich mich nur noch sagen und lege auf. Wo sind meine Schuhe?» Mama! Wo sind meine Schuhe?«Natürlich, im Schuhschrank. So ein Blödsinn, diese blödsinnige Ordnung, ich merke, wie mich das sinnlos wütend macht, aber dazu hab ich jetzt keine Zeit.

«Wo willst du denn hin?«, fragt Mama.

«Zu Ella«, sage ich und kann das selbst nicht glauben. Mama freut sich. Ich bin schon halb aus der Tür, muss mir aber noch anhören:»Immer muss erst ein andrer auf dich zukommen! Nu freunde dich aber mal mit ihr an!«

Augenrollend trete ich auf die sparsam beleuchtete Dorfstraße. Es zieht sich ein Pflastersteindamm durchs Dorf, geht abschnittsweise in rissigen Beton über, holperige Platten, aufgeweichte Lehmwege mit Schlaglöchern, die nach einem Herbstregen unauslotbar werden und nur für die Eingeborenen halbwegs berechenbar sind, und alles heißt Dorfstraße. Die Fremden werden identifiziert anhand der Schlammspritzer an den Seitenscheiben ihrer untauglichen Autos. Die sich seltsamerweise auf den ersten Blick in nichts von den Autos der Einheimischen unterscheiden, kein Mensch fährt hier einen Geländewagen oder so, aber insgeheim scheinen alle von der Robustheit und Kampferprobtheit ihres Gefährts überzeugt, natürlich ihres Gefährts allein weit und breit. Die Einzigen, die das wirklich für sich verbuchen könnten, sind meiner Meinung nach die Hass-Brüder, die wahrhaftig so heißen und schon seit mindestens hundert Jahren in ihrem grauen Haus mit den grünen Fensterrahmen und schiefen Gardinen direkt an der Landstraße geheimnisvoll vor sich hin leben, kauzig,»anners«, und die immer noch mit ihrem Pferdewagen auf dieser Landstraße zum Einkaufen in die Stadt fahren. Stets zu zweit, wahrscheinlich muss einer auf die Gäule, die das Alter ihrer Besitzer nicht wesentlich unterschreiten dürften, aufpassen, oder sie können nach so langer Doppelpack-Existenz einfach nicht mehr ohne den anderen.

«Dei hemm’n n annern Gloubn«, soll die stets wiederholte, aber einzige Auskunft meiner Uroma Hilda zu dem merkwürdigen Gespann gewesen sein, und als ich Mama mal fragte, um was für einen anderen Glauben es sich dabei denn handelte, stellte sich heraus, dass bis jetzt keiner jemals das Bedürfnis gehabt hatte, das wissen zu wollen. Aber auch auf ihren Briefen, falls sie welche kriegen, steht Dorfstr., Nummer sowieso, denn vor der Post sind alle Bresekower gleich.

Überm Acker hängt gelb und wie aufgepumpt der Mond, ein schwerer Ballon, der die Sterne aus seiner Bahn drängt. Sie haben sich alle am restlichen Himmel zusammengeschoben, und das ganze Funkeln macht einen ein bißchen taumelig, wenn man nach oben guckt. Früher hab ich mir vorgestellt, wie das wohl wäre, auf dem Mond zu wohnen, und zwar genau auf der Grenze, ein Bein im Hellen und ein Bein im Dunkeln sozusagen. Ob dann wohl eine Hälfte von mir immer schlafen könnte, während die andere die ganze Zeit wach sein muss. Bis ich gemerkt habe, dass es hier nicht viel anders ist. Hinterm Mond.

Ein Geruch nach Kompost und Gully, in einem Garten plumpst ein Apfel ins feuchte Gras. Zwei Hunde wechseln sich beim Kläffen ab, sonst nichts. Fast nichts, außer meinen eiligen, leisen Schritten. Sommer ist, wenn man nicht mehr weiß, was Frieren ist; also ist der Sommer hiermit vorbei. Meine Schultern streben schon wieder Richtung Hals, die Hände stecken tief in den Taschen, sowieso finde ich, dass Taschen an einem Kleidungsstück das Entscheidende sind.

Noch bevor wir gestern bei Ellas Vorgartentor angelangt waren, hatte ich alles erfahren, die näheren Umstände, wie man so sagt. Vor drei Tagen haben die Glocken geläutet, nachmittags um zwei, ein Montag. Die alte Anna Hanske war gestorben, war tot seit letztem Dienstag, was alle ziemlich überrascht hatte, noch am Wochenende davor war sie auf ihrem schwarzen Nachkriegsfahrrad durchs Dorf gehuckelt. Ich mochte sie irgendwie, obwohl ich nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte, höchstens mal» Tach «gesagt, sie war die Einzige, bei der mir das nicht schwerfiel, sie war anders. Schweigsam, ja eigentlich nichts Besonderes hier, wenn damit ›maulfaul‹ gemeint ist, aber sie war es auf eine andere Art, die jenseits dieser Verdruckstheit lag, die den Klatsch hervorbringt. Eine Krankheit sah man ihr nicht an. Sonst weiß ich nichts über sie, außer dass keiner sie so richtig leiden konnte, anscheinend wegen der Sache mit diesem Henry damals, der bei ihr gewohnt hat und wohl über irgendwelche Ecken mit ihr verwandt war, dabei konnte sie dafür ja nun nichts. Sie hat dann bis zum Schluss allein gelebt, in einem ziemlich großen Backsteinhaus, schräg gegenüber vom Friedhof. Nun musste sie die Straße überqueren, und ihre Tochter war weit weg. Ich hatte das auch nicht gewusst. Die lebte seit Jahren in Irland, hatte einen Iren geheiratet und hat einen Sohn. Paul. Und jetzt sind sie hergekommen, am Sonntag, zur Beerdigung, und weil das Haus verkauft werden muss. Sie wollen ja nicht hierbleiben, logisch. Nur so lange, wie es eben dauert. Paul sagte, er hätte nur unter der Bedingung mitgedurft, dass er hier gastweise die Schule besuche, also das Gymnasium, sein Vater hatte das so gewollt, wegen der» nutzvollen Erfahrung«, wie Paul sagte, und zur praktischen Verbesserung und Anwendung seines Deutsch, das er natürlich von seiner Mutter gelernt hat und meiner Meinung nach schon ziemlich perfekt spricht, bis auf den leichten Akzent, klingt übrigens sehr süß. Sein Vater schreibt gerade an einem Buch über Uwe Johnson und ist schon allein deshalb mitgekommen. Ich nehme mal an, er wird nicht viel finden. Frag doch mal einen hier nach Uwe Johnson, die gucken dich bloß blöd an. Dabei hat er ihnen was Großes geschenkt, das haben sie bloß nicht angenommen. Das hat hier einfach keiner mitgekriegt. Seit Uwe Johnson kann man einen der häufigsten Laute des Plattdeutschen richtig schreiben, ich meine, dass er auch von Leuten, die des Plattdeutschen nicht mächtig sind, richtig plattdeutsch ausgesprochen werden kann, und zwar das lange offene O, das gibts nämlich eigentlich gar nicht. Går nich, nach Johnson. Fast so wie in ›Paul‹. Und die hier quälen sich immer noch mit Doppel-O und solchem Quatsch rum. Aber Eleganz war wohl noch nie unsere Stärke.