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Es tat weh, alles tat dir weh, von Betäubung konnte keine Rede sein, du standest nicht unter Schock. Du fasstest klare Gedanken, zum Beispieclass="underline" Dein Bruder aus dem Nichts verriet dich. Du sahst nach oben, in die schwarzen Kronen der Bäume, die einfach nicht aufhörten, die unablösbar mit dem schwarzen Himmel verbunden wirkten, an Sterne kannst du dich nicht erinnern. Natürlich. Du wusstest, dass der Mond da war. Er hatte nur die Augen zugekniffen, ganz zu. Der Mond, dachtest du.

Nach fünf Minuten war das vorbei. Roland hielt sich nicht länger auf. Als nötig. Er stand sofort wieder, ein Stehaufmännchen, ein rechter Winkel zwischen dir und seinem Hosenschlitz, den er eilfertig und präzise schloss, der letzte Handgriff einer notwendigen und doch auch zufriedenstellenden Arbeit. Die nasse Kälte des Bodens vermischte sich mit dem kalten Schweiß deines Rückens, du sahst gar keine Veranlassung mehr, die beiden voneinander zu trennen, stemmtest nur deine Schultern hoch, stütztest dich auf die Ellbogen, als gehörte sich das so, als hättest du gerade, kraftlos und verklebt wie du dalagst, ein ungewolltes Kind geboren.

Im Gehen rief er dir etwas zu, und du brauchtest einen Moment, um aus den Tierlauten — oder vielleicht war es auch umgekehrt, vielleicht waren es menschliche Töne, die da überlaut an das Ohr einer Maus drangen — etwas zusammenzusetzen, das ungefähr so geklungen haben mag:»Deine Muschi is auch schon ganz schön ausgeleiert, du lässt dich doch von der halben LPG vögeln!«Bis du das in deine Sprache übersetzt hattest, war der Park längst wieder leer, mucksmäuschenstill, du fielst gar nicht auf, und nur diese Drohung zitterte noch kurz in der Luft. Du hattest es sofort so verstanden. Das wäre nicht nötig gewesen. Du hattest nicht vor, irgendwem irgendetwas zu erzählen, du warst ihm genug zu Gefallen gewesen.

Als du endlich aufstandest, verwirrte es dich am meisten, deinen Schlüpfer noch an dir vorzufinden. Als wäre gar nichts gewesen. Du empfandest verschiedene Dinge auf einmal. Eines davon war Dankbarkeit. Gegenüber dem Schlüpfer, der dich genau wie vorher baumwollen und weiß bedeckte und höchstens hinten etwas angeschmutzt sein konnte. Für einen irren Augenblick zogst du sogar in Erwägung, er hätte ihn dir wieder angezogen, aus dieser merkwürdigen Sorgfalt heraus, die er stets hatte walten lassen, wenn er dir auf dem Nachhauseweg, auf dem Weg nach Kossin, noch mal unter das Shirt, das Nicki gefahren war und es danach sofort wieder heruntergezogen, zurechtgezupft hatte, als hätte er stets alles ungeschehen machen wollen. Ein Verhalten, das dir nur potenziert erschien in diesem Gar-nicht-erst-Ausziehen des Schlüpfers. Aber das erst später. Ach ja. Ein ausgeleiertes Gummiband.

Du konntest nicht mehr nach Hause gehen an diesem Abend. Denn es war eine Morgendämmerung, in der du schließlich euer Haus wie nach langer Abwesenheit und, wie es dir vorkam, nicht ganz pünktlich erreichtest. Niemand wartete auf dein Eintreffen. Anders als Phileas Fogg hattest du es nicht geschafft, hattest du die Wette verloren, hattest zwar in einer Nacht die bekannte Welt umrundet, aber nichts gewonnen, du warst doch nur wieder in Bresekow vor eurem Haus angekommen, und zur Strafe würdest du für den Rest deines Lebens immer um diese wer weiß wie lange Spanne zu spät sein. Warum dir ausgerechnet dieses Buch jetzt einfiel, hättest du nicht sagen können. Du hattest es vor ein paar Jahren von Peter zum Geburtstag bekommen, da war schon Neubrandenburg zu seinem Ort, deinem Unort geworden, und du hattest es als erstes Zeichen eurer Entfremdung genommen, wenn nicht Schlimmeres. Die REISE UM DIE ERDE IN ACHTZIG TAGEN hattest du nur ihm zuliebe verfolgt, in der genau falschen Annahme, damit die Entfernung zwischen euch wieder schrumpfen lassen, euch wieder zum Ausgangspunkt zurückführen zu können. Es handelte sich um einen großformatigen Doppelband mit seltsam wässrigen Illustrationen, die zweite Geschichte hattest du nie geschafft, ihr Titel es offenbar nicht mal bis in dein Bewusstsein, denn du konntest ihn auf dem Umschlag, der dir in aller Deutlichkeit vor Augen stand, beim besten Willen nicht entziffern. Aus irgendeinem Grunde schien es dir aber unabdingbar, dieser Sehschwäche sofort abzuhelfen, als ginge es darum, ein entscheidendes Detail, das du bisher stets übergangen hattest, einer Ermittlung einzufügen. In deinem Zimmer fandest du das Buch zwischen wenigen anderen, nur durch seine Größe etwas auffällig. Du nahmst es heraus und starrtest verständnislos auf die weißen Buchstaben. VON DER ERDE ZUM MOND. Kann sein, du hattest dich geirrt.

Du zogst die orangen Gardinen zu. Deine Mutter weckte dich nicht. Hätte jemand in deinen Traum hereingeflüstert, dass es in Schmalditz eine Schule gab, hättest du laut lachen müssen.

Du bist dann aber doch wieder hingegangen, mit einem Entschuldigungszettel deiner Mutter, und das will dir heute am absonderlichsten erscheinen. Dass du dieser Dinge noch immer bedurftest, dass du es offenbar selber glaubtest: dass du erst sechzehn warst. Du denkst an Paul und fragst dich, wie er dieses Alter einfach und spurlos hinter sich lassen konnte, ohne dass du es selber merktest, ohne dass du das Gefühl loswurdest, ihn noch auf Jahre beschützen zu müssen. Er kommt dir immer noch viel zu jung für alles vor. Du kamst dir nie zu jung vor, und anscheinend auch sonst niemandem. Seit damals bist du dir vielmehr oft um ein weniges zu alt vorgekommen. Schon vor den Prüfungen, bis zu denen du unbehelligt bliebst von Zetteln und Blicken jeder Art, was du für ein Zeichen von unbemerkt wiedereingerenkter Normalität nahmst, schautest du auf dich selbst wie auf eine eigentlich lange schon abgegangene und nur durch eine bürokratische Fehlleistung wieder zurückbeorderte Schülerin der POLYTECHNISCHEN OBERSCHULE SCHMALDITZ. Du nahmst das mittelmäßige Zeugnis entgegen wie eine Stellvertreterin. Auf dem Abschlussfest vertratest du dich natürlich nicht, obwohl du neugierig gewesen wärst, ob einer mit dir getanzt hätte. Hartmut zum Beispiel. Auf dem Abschlussfest konnte man so was schon mal machen. Wenn man nicht zu viel wusste.

Diese Frage hat dich nie ernsthaft beschäftigt. Ob einer was wusste, immer noch weiß. Es hätte gar nichts geändert. Angenommen Hartmut. Wie hättest du das erfahren sollen, wo es doch dazu einer eigenmächtigen Entwindung seinerseits aus Roland Möllrichs Schlepptau bedurft hätte, und wenn nicht mal du ganz in der Lage dazu warst, wie dann erst der kleine Hartmut Wachlowski? Angenommen, doch. Heimlich, hinter Rolands breitem Rücken. Dort hätte er aber nicht lange ausharren können, wolltest du nicht nur einen lästigen, sondern auch nützlichen Mitwisser in ihm haben. Nur genützt hätte es gar nichts, dir nichts und ihm nichts. Zu einer solchen Dankbarkeit ihm gegenüber wärst du nicht fähig gewesen, die einen Verrat an Roli samt Folgen aufgewogen hätte. Und du wärst allemal nur diejenige gewesen, die den Schönen, den Armen Roland angezeigt, vor ein Gericht gezerrt und womöglich hinter Gitter gebracht hat. Nicht diejenige, die Roland Möllrich vergewaltigt hat. Doch, genau: die, die ihn vergewaltigt hat.

Solche Überlegungen, auch andere, stelltest du damals gar nicht an. Erst im Nachhinein, im Jenseits, erschien dir manches unglaubhaft, und so fragwürdig, wie nur Selbstverständlichkeiten bei näherer oder auch fernerer Betrachtung auszusehen pflegen.

Den Sommer über merktest du fast nichts. Dir wurde nicht unwohl, höchstens in den Minuten, wenn deine Mutter dich abpasste und fragte, wie weit du schon in deinem Nachdenken über eine mögliche Lehre gekommen seist, eine Empfehlung für die EOS hattest du ja zu deiner Erleichterung nicht erhalten. Deiner Mutter war es egal, zumindest hatte sie dich nicht überreden wollen zu zwei weiteren Schuljahren, sie sah deutlich genug, dass davon auch nichts besser würde. Und wo nun schon Peter, und ganz grundlos, die höhere Bildung verschmäht hatte, dachtest du insgeheim, brauchtest wohl nicht ausgerechnet du damit jetzt ankommen. Sie hegte auch nicht die Ansicht, dass man etwas werden müsse, sondern nur die, dass man etwas machen müsse, und ein Herumlungern über den Sommer hinaus hätte sie nicht geduldet. Dir war langweilig, sonst nichts, und du bezweifeltest, dass eine Lehre diese Langeweile grundsätzlich beheben könnte. Vor deinem inneren Auge schriebst du das Wort mit doppeltem e.