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Du fuhrst nur noch jedes zweite Wochenende nach Hause. So brauchtest du nur halb so oft den Mund aufmachen, um» nein «zu sagen. Du sahst nicht ein, was so wichtig an dieser Information sein könnte, es ging ihr doch nicht ums Geld. Auch bei genauerer Betrachtung entdecktest du keinen Grund für ihre Hartnäckigkeit. Für deine dachtest du dir einen aus: Ihr wart somit doch quitt, du und sie. Enthieltet ihr euch nicht beide einen Vater vor? Genau. Schon das Wort ›Vater‹ erschien dir übertrieben, du kanntest niemanden, auf den es passte. Den anderen schien es ähnlich zu gehen, du fandest dich in einem unerwarteten Einverständnis mit ihnen darüber, dass Ursachen ungeklärt bleiben können.»So was passiert.«

Peter sahst du überhaupt nicht mehr. Vielleicht kam er an den anderen Wochenenden, vielleicht solltest du ihm nicht unter die Augen kommen, so. Er hatte dich besorgt angesehen, als du ihn einmal in der Stube vorgefunden hattest, wie er den Ofen mit neun, zehn, elf Kohlen bestückte, allzu kalt war es noch nicht gewesen, er hatte leise mitgezählt und dabei zu dir hochgeblickt. Diesen Ausdruck kanntest du gut an ihm, er beunruhigte dich nicht, eher im Gegenteil. Aber etwas in seinen Augen war geborgt. Von deiner, von seiner Mutter womöglich, der es allzu unbehaglich geworden sein musste, etwas mehrere Wochen lang nur mit dir zu teilen. Und auf dich war kein Verlass. Zumindest hatte er von dir nicht wissen wollen, wer. Er wollte es nicht wissen.

Im Dezember fingen die anderen an, zueinander ins Bett zu kriechen. Auch Kathi machte dir dieses Angebot. Deine Eisbeine wurden nie warm. Hätte sie nicht so gebettelt, wärst du hochgestiegen zu ihr. Von den anderen hörtest du:»Na, du bist ja schon zu zweit«, oder auch:»nich ganz alleine«, dann kicherten einige. Nein, du warst beileibe nicht verrückt. Du konntest dir das nicht vorstellen, das. Nachts wachtest du oft auf, oder du konntest gleich nicht schlafen. Du hörtest den Zinkeimer voll werden. Irene, so hieß sie doch, hatte» schneidend Wasser«. Sie hatten ihr den Eimer erlaubt. Mit der Zeit benutzten ihn alle, außer Kathi und du. Ihr begleitetet euch gegenseitig den langen, frostdurchwehten Gang zum Klo. Aber lieber war dir, wenn du ihn alleine gehen konntest, wenn da nur deine eigenen Schritte tappten, wenn da niemand war außer dir.

Niemand außer dir war im Dorf. Sie hatten dich eine ganze Woche vor Weihnachten nach Hause geschickt mit dem Hinweis, du hättest dich auch im neuen Jahr nicht zurück nach Kießow zu begeben, sondern in deinem eigenen Dorf zu bleiben und dich zu schonen und vorzubereiten. Sie sagten auch, worauf, aber da hörtest du schon wieder nicht hin. Die Bücher durftest du mitnehmen, Kathi versprach, dir alles Verpasste vorbeizubringen. Du wartetest nicht auf sie. Du bewachtest das Thermometer. Als es fünf Tage lang beständig unter null geblieben war, stündlich strenger alle in ihre Häuser pferchte, gingst du ohne vorherige Prüfung los. Du hattest es nicht vergessen. Es wurde dunkel, wie du es gewollt hattest, die Kirche war lange aus, du hattest die Glocke gehört und dann nichts mehr. Peters Schlittschuhe hattest du auf dem Boden gefunden, du stelltest fest, dass du die Schrauben etwas lockern musstest, deine Füße waren inzwischen größer als seine vierzehn-, fünfzehnjährigen. Du setztest dich auf das Schneepolster der wackligen Bank am Teich, wie die jungen Mädchen. Erst dachtest du, es würde nicht gehen, du konntest dich nicht weit genug hinunterbeugen, um die Schrauben festzuziehen, deine Finger wurden klamm, obwohl du schwitztest. Du hievtest die Füße quer auf die Knie, irgendwie schafftest du es. Es kam dir vor wie in der Schule, wenn im Sportunterricht das Ausführen einer an sich leichten Übung überflüssigerweise erschwert wurde, durch einen Medizinball zum Beispiel, wie eine Behinderung. Vorsichtig stakstest du auf den unscharfen Teichrand zu, du hattest sofort Gleichgewichtsprobleme, ein großer, unbeholfener Schritt hätte fast alles beendet. Als Kind hattest du immer gedacht, es müsse ›ungeholfen‹ heißen, eine Art Partizip, und du hattest Peter nicht geglaubt, wenn er es dir vorgesagt hatte, geargwöhnt, er spreche es absichtlich falsch aus. Der Eisteich trug dich mühelos, es knackte nicht einmal, als wärst du gar nicht da oder sehr leicht. In Schwung gebracht, schwankte dein Körper kaum noch, du setztest einen Fuß vor den anderen und musstest nur aufpassen, nicht zu schnell zu werden, um die Kurven zu kriegen, das sogenannte Übersetzen hattest du nie gelernt. Das Eis war neu und unsichtbar, und morgen, wenn man die Kinder zusammen mit dem Festdunst wieder aus den Stuben lüften würde, fänden sie sich verdutzt darüber, wer ihnen ihr Eigentum, die Unberührtheit des Schnees weggenommen hatte. Ein plumper Vogel, von dem als Einziges bekannt war, dass er nicht fliegen konnte.

Es kam das Jahr neunzehnhundertsiebzig. Es begann im Februar. Dann kam das Jahr neunzehnhunderteinundsiebzig, und darauf muss das Jahr neunzehnhundertzweiundsiebzig gefolgt sein, aber du weißt nicht, wann sie anfingen. Vom Jahr neunzehnhundertdreiundsiebzig weißt du zumindest, wann es endete. Es war recht kurz und schon an einem Februartag vorbei. Wahrscheinlich war das alles eine einzige Zeit, ohne Monate, Jahreszeiten und Übergänge, eine Anomalie. Man versuchte, dir etwas anderes weiszumachen, man maß ein Kind in Zentimetern und Gramm und meinte, dir damit das Vergehen der Zeit bewiesen zu haben, gerade so, als verginge sie für jeden gleich, gerade so, als hätte man dich vermessen. Blödsinn.

Seit einem Tag Anfang Februar war etwas da, das beständig größer wurde, das von Anfang an viel zu groß gewesen war für dich und dir unbekannte Schmerzen verursachte, ein Wackerstein, der rumpelte und pumpelte, scheuerte und scheuerte. Du warst so wund die ganze Zeit, du merktest es schon gar nicht mehr. Manchmal hieltest du dich deshalb für schmerzfrei, aber es hatte doch nicht aufgehört, es hörte nicht auf, du musstest davon ausgehen, dass es nicht mehr aufhören würde. Du musstest ihm einen Namen geben, irgendeinen. Henry. Vielleicht hattest du ihn irgendwo gelesen. Im Krankenhaus hatten sie auch wieder gefragt. Aber es kam wohl öfter vor. Sie legten dir einen Säugling an die Brust. Woher solltest du wissen, dass er zu dir gehörte. Er biss dich, du hättest nicht geglaubt, dass man ohne Zähne so beißen konnte. Aber vieles war möglich. Bis zum Schluss hattest du nicht geglaubt, dass du ein Kind zur Welt bringen würdest, dein Kind oder das von Roland Möllrich. Etwas kam aus dir heraus, und auch das nicht einfach so, sie mussten es herausziehen, es konnte alles Mögliche sein. Es tat weh, wie nur etwas Fremdes weh tun kann, dein eigener Körper hätte dir niemals solche Schmerzen verursacht. Du wolltest gar nicht wissen, was es war. Dein ›natürliches‹ Kind. Du wusstest, was das bedeutet. Du verlegtest dich aufs Unnatürliche. Dein Körper war dein Verbündeter. Nach zwei Wochen ließ er sich nicht länger beißen. In deinen Brüsten pochte es heiß und hart, du ließt nichts mehr heran, nichts heraus. Du bekamst Penicillin, aber dein Körper stellte sich schlau an, viel schlauer als du. Der Arzt beschimpfte dich. Du hättest eine Allergie angeben müssen. Du warst dir sicher, dass dein Körper sie in der Hinderhand behalten hatte, um sie genau jetzt auszuspielen.»Grinsen Sie nicht so dämlich!«, sagte der Arzt. Falls er ›Sie‹ zu dir sagte. Deine Mutter rührte MILASAN an, während dein Magen das Berlocombin schlecht vertrug. Dir war, als lägen Vorwürfe in ihren Blicken. Dein Körper hielt alles auf Abstand.

Du zerrupftest den alten Korb-Kinderwagen, du passtest schließlich nicht mehr hinein, und jemand anderes erst recht nicht. Du konntest unmöglich rausgehen. Deine Mutter brachte aus Anklam einen neuen an, er war gelb wie eine Strafe. Etwas anderes hätte es nicht gegeben. Natürlich nicht. Es gab überhaupt nichts anderes mehr. Du schobst ihn aus dem Dorf raus, am Wäldchen vorbei und zurück, immer den gleichen Weg, so konntest du ihn bald mit geschlossenen Augen gehen, mit Augen, in denen der enteignete Schlaf brannte, der Unschlaf, eine Enteignung jedenfalls, unscharf. Du sahst sie nicht, und sie sahen dich nicht. Sogar das Schreien ließ für eine Weile nach. Du hörtest nichts, nicht mal ein entferntes Moped.