Nach vier Monaten bekamst du einen Krippenplatz. Sie sagten dir, du hättest sonst länger warten müssen. Es klang nicht wie ein Privileg. Es klang, als wärst du schuld. Bruni Deetz’ Baby war gestorben, einfach so, wie es hieß,»einfach so«, sagte die Schrödersche in der Krippe und zog die Brauen hoch dabei. Bruni Deetz hatte noch fünf oder sechs andere Kinder und tat dir nicht sonderlich leid.»Das sieht ja aus wie bei Deetzens«, sagten die Leute, wenn sich ein Haushaltsgefüge nicht mit ihrem Gestaltungssinn von der Größe eines Scheuerlappens, eines Tischläufers deckte. Du fragtest dich, ob du jetzt auch dazu gehörtest, und schobst das Wort ›Assi‹ wie eine exotische, scharfe Speise auf deiner Zunge herum. Einfach so, dachtest du. Für einen Moment, der so klein war, dass du nicht weißt, wie dein Gedächtnis ihn im Gerümpel all der Jahre nicht verlieren konnte, spürtest du etwas wie Neid. So was passiert. Roland Möllrich war auch tot. Deine Mutter hatte es dir berichtet, du hattest verständig genickt, beinahe wie eine Bestätigung. Einer Sache, die dir lange bekannt war, oder ihr. Es veränderte nichts. Außer, dass du jetzt endgültig hättest herumlaufen und alles Mögliche erzählen können. Niemand wäre so dumm gewesen, dir zu glauben.
Du gingst zurück. So weit du eben konntest, dieses kleine Stück. Dein Bett im Kießower Wohnheim war nicht belegt worden. Deine Mutter hatte nichts dazu gesagt, sie konnte schlecht sagen, sie sei froh, nicht wahr. Sie konnte schlecht sagen, ein kleines Kind sei ihr zuviel, wo ihr doch Peter nicht zuviel gewesen war und selbst du nicht. Sie konnte das: unbekannte Kinder aufziehen. Du warst an den Wochenenden da, allen. Es kam dir nie so vor, als seist du vermisst worden. Es kam dir nicht so vor, als vermisstest du etwas. Du wünschtest es dir aber manchmal. Wenn das Kind dich anlachte, lachtest du zurück. Es gelang dir nicht, auch zurückzuweinen. Kathi arbeitete alles mit dir nach. Du ludst sie nie ein, sie dich oft. Du fuhrst nie hin, auch nicht im Urlaub, den ihr im Sommer nehmen musstet. Wohin mit dir. Im Bus half dir selten jemand, wenn du nach Anklam fuhrst. Manchmal war kein Platz mehr für einen weiteren Kinderwagen, dann drehtest du um und gingst wieder nach Hause. Es machte keinen Unterschied. In Anklam liehst du dir Bücher aus, von denen du zu wissen glaubtest, dass Peter sie mal gelesen hatte. Du erwogst desöfteren, dich zwischen den Regalen zu verstecken, dich einschließen zu lassen, wenigstens eine Nacht an einem fremden Ort zu verbringen. Aber der gelbe Kinderwagen vor der Tür hätte dich immer verraten. Du wusstest das. Trotzdem warst du jedesmal überrascht, falls man das so sagen kann, ihn beim Verlassen der Bibliothek dort vorzufinden. Ein paarmal wärst du fast dran vorbeigelaufen.
Wie dumm, daraus eine Geschichte zu machen. Fast bist du so dumm, sie auch noch zu glauben. Peter, Paul and Michael. Sollen sie erzählen. Dir ist nichts passiert. Drei oder vier Jahre lang, was macht das schon aus. Wenn du Glück hast, ein Zwanzigstel. Niemand kann sich ein Zwanzigstel vorstellen. So schmal, es passt beinahe gar nichts hinein, keine Gärtnerei und keine Hochzeit eines Bruders, keine Aussichten und keine drei Worte, kein normales Kind. Nur ein bisschen Geld, du quetschtest es aus dieser engen Spalte deines Lebens heraus, drücktest sie dabei so gut es ging zusammen, denn auch sie wollte beständig größer werden. Es gab nur ein Mittel. Du spanntest dich in sie wie in einen Bogen ein, du überlistetest sie, denn sie dehnte sich von selbst, bis zu einem Punkt, an dem keiner ihre Spannung mehr hätte halten können, dich, es genügte eine kleine Irritation, und schon trug dich der Februarwind an einen Ort, von dem noch niemand zurückkehrte.
(Wenn das Kind versucht hatte, zu dir zu sprechen, hattest du versucht zurückzusprechen.)
HENRY
Er hat fast schon wieder vergessen, wie der hieß, immerzu vergisst er das fast, aber dann fällt ihm das wieder ein. Er darf heute Nacht gar nicht schlafen, er muss bloß so tun, als ob er schläft, mit Schnarchen und so, aber nicht richtig schlafen, sonst vergisst er das. Und sie sagen ihm das dann vielleicht nicht mehr und auch nicht, dass der da war, wenn er das auch mitvergisst. Er muss sich das merken. Wo der herkam. Aus Amerika oder was, aber nicht Amerika, aber so was Ähnliches. Was da auch gleich bei Amerika ist, wo der her ist, der hat gesagt, er würd ihn da mal hinholen, wenn das geht, nachher. Das hat er gleich erzählt, nachher, aber die haben bloß wieder gelacht.»Du und Amerika! Das dauert aber noch paar Jährchen, Henry.«»Musste aber erst noch Englisch lernen, du ju schpiek Inglisch?«Inglisch. So hieß der. Nein. Jetzt weiß er das wieder, dass der so ähnlich hieß, mit Nachnamen. Weil der nicht richtig verwandt ist, oder er, bloß so ein bisschen, so mittel. Nein. Halb, halbverwandt, so hat der das gesagt.
«Du hast Besuch, Henry«, haben sie gesagt, aber er hat gesagt,»leck mich am Arsch«.»Freundchen«, haben sie gesagt. Dann haben sie ihm erklärt, wer das ist, aber er hat die ganze Zeit gedacht, dass das bloß wieder Onkel Peter ist, der war schon vor drei Tagen dagewesen oder zwei Tagen, er wollte das nicht, dass schon wieder Onkel Peter kommt und ihn besucht, doch nicht schon wieder.»Leck mich am Arsch«, hat er gesagt zu Onkel Peter letztes Mal, ha ha. Aber Onkel Peter hat ihm gar keine gescheuert, bloß wieder eine Frage gestellt, doofe Frage.»Was ist denn mit dir los«, hat Onkel Peter gefragt, er hat mit den Schultern gezuckt.»Hast du mir nix mitgebracht«, hat er gefragt, und Onkel Peter hat gesagt, doch. Aber er hat ihm das nicht gegeben, der Blödmann, der blöde Sack Onkel Peter. Weil er sich nicht entschuldigt hat. Erst ganz zum Schluss, als Onkel Peter sich schon umgedreht hatte, da hat er sich noch mal zurückumgedreht, und dann hat er das gekriegt, Schokolade und so was, Kinderschokolade und so ein Überraschungsei, aber da war wieder keiner drin von die, von den Heppihippos, bloß wieder so Zusammenbauungsscheiße. Weil er dann Entschuldigung gesagt hat. Als Onkel Peter aufgestanden ist und sich umgedreht hat,»Entschuldigungentschuldigung«.
Aber das hat er gleich gesehen, dass das nicht Onkel Peter war, und vielleicht war das auch gar keiner von der Polizei und auch keiner von die aus Bresekow.»Den kenn ich doch gar nich«, hat er gesagt,»nu geh erst mal hin«, haben sie gesagt. Er hat sich umgedreht.»Den kenn ich nich.«
«Henry.«
«Ich kenn den nich. «Er musste fast heulen musste er fast.»Was ist denn mit dir los?«
Dann fiel ihm das ein auf einmal. Dass der vielleicht von seiner Mutter war, von seiner Mutter hergekommen, dass die ihn hergeschickt hatte. Weil sie vielleicht nicht selber herkommen konnte. Weil sie herkommen wollte. Aber weil sie nicht konnte, vielleicht.
«Hallo«, hat der gesagt, als er hingegangen ist. Da hat er gleich einen Schreck gekriegt, weil der gleich aufgestanden ist und ihm die Hand hingehalten hat. Und dann hat er gesagt, wie er heißt, aber das hat sich so komisch angehört, aber er hat ihm seine Hand gegeben. Wie im Fernseher, wenn sich da zwei Leute die Hand geben und dann der eine dem andern sagt, wie er heißt, und der andere sagt dem andern das auch und dann angenehm.»Angenehm«, hat er gesagt, und er hat sich gefreut, weil er das schon immer mal sagen wollte, angenehm, einmal hat er zu dem einen hier gesagt, dass er ihm die Hand geben und dann seinen Namen sagen soll, damit er das sagen kann, aber der hat bloß gesagt,»spinnst du, du weißt doch, wie ich heiß«.
«Du bist Henry«, hat der gesagt, und er wusste nicht, ob er ja sagen soll, weil das sich nicht so wie eine Frage angehört hat.
«Hast du mir was mitgebracht?«, hat er sofort gefragt, damit er das nicht vergisst. Aber er wusste, dass das falsch war, gleich danach hat er das gewusst und hat sich mit der Hand auf den Mund gehauen, weil das so rausgerutscht war aus seinem Mund. Aber der hat bloß»oh «gesagt, und bloß:»Nein, Henry. Tut mir leid.«