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Apropos: Letzte Woche war ich in der Buchhandlung. Nur so, ich wollt mir mal wieder ein gutes Buch kaufen, ich will eigentlich wieder mehr lesen. Aber glaubst du, du findest was? Schon gleich, wenn man reinkommt, springen einen ja diese ganzen Herz-Schmerz-Schinken an. Ich hab ja mal versucht, so was zu lesen, dieses eine, wo die alle so hell begeistert waren, sogar meine Chefin, und auch die Dölz in der Buchhandlung hat mir das wärmstens empfohlen, na. Nach zehn Seiten hatt ich die Nase voll. Hab ich beim nächsten Ausmisten gleich zum An- und Verkauf gebracht, ich wollt das gar nicht zu Hause rumstehn haben. Und dabei hatt ich die Dölz doch für ne intelligente Frau gehalten. Jetzt hab ich die gar nicht erst gefragt, obwohl die mich gleich in die Schmalz-Ecke lenken wollte. Ich hab so getan, als interessier ich mich für die Kalender, aber nicht mal ein gescheiter Kalender! Weiter rumgucken braucht ich gar nicht, da kommen ja bloß noch die Schulbücher, die Gartenbücher und Kochbücher und Sprüche fürs Poesiealbum. Ich war schon am Gehen, da seh ich das Buch gleich neben dem Ladentisch, ANKLAMS GESICHTER. FOTOS VON 1968 BIS 1991. Zuerst hab ich mich über die krummen Zahlen gewundert, und über den Namen: Ralf Holle. Ist das der Sohn, dacht ich. Denn mein Herr Holle, der ist ja schon tot, und der hieß auch Edgar mit Vornamen, das weiß ich, Edgar Holle. Aber von ihm sind die Fotos. Die hat sein Sohn — siehst du, ich wusst gar nicht, dass der einen Sohn hat — der hat die alle aufgehoben und sortiert nach dem Tod von seinem Vater, und der hat buchstäblich bis fast zu seinem letzten Tag fotografiert, der konnt nicht ohne Kamera, das schreibt auch sein Sohn im Nachwort, als wenn die Welt erst dann richtig wirklich für ihn wurde, und als Kind hätte er das wohl gar nicht gut gefunden, dass sein Vater ihn ständig geknipst hat, er war ja auch allein mit ihm. Einundneunzig ist er gestorben, hat er auch nicht mehr viel von der Wende gehabt, komischerweise, als das dann damals so kam, hab ich wirklich an ihn gedacht, ich dachte, jetzt kann er das endlich, wie er immer gesagt hat, immer so halb im Flüsterton, er möcht mal ganz woanders hin, mal ein ganz andres Licht sehen, ich wusste immer gar nicht, was er eigentlich meint damit. An Anklam hat er nie n gutes Haar gelassen, aber als seine Frau tot war, wollt er weg aus Prenzlau,»ich konnt da nicht bleiben«, hat er gesagt. Und in Anklam hatten sie eine Stelle für ihn, da ist er hergekommen achtundsechzig. Und hat immer wieder Anklam fotografiert, die Leute, meistens bei der Arbeit, war ja jeder auf irgendeiner Arbeit tagsüber. Ich musste das kaufen, das Buch. Ich glaub, ich bin sogar n bisschen rot geworden dabei, weil ich ja auch gleich das Foto von mir entdeckt hab. Komisch, das ist keins aus der Zeit bei ihm, da steh ich zwar auch hinterm Ladentisch, aber schon im KURZWAREN. Die Dölz hat mich angegrinst beim Kassieren.»Sie sind da auch drin, ham Se schon gesehn?«»Nö«, hab ich gesagt, aber ich konnt noch nie gut lügen. Das war mir auch irgendwie komisch, plötzlich in einem Buch zu sein. Und auf seinen eigenen Fotos sieht man das irgendwie nie so: dass man auch schon zu einer ganz andern Zeit gelebt hat, dass man ja dabei war, und dass das total verschwunden ist. Erst zu Hause hab ich gemerkt, dass mein Name nicht stimmt, dass da unter dem Bild steht: MARINA STÖWSAND, HO-VERKAUFSSTELLE ›KURZWAREN‹. Marina, das war ja meine Freundin, die hat auch mit mir zusammen gelernt, aber die war dann in der SPOWA. Ich weiß nicht, wieso der das verwechselt hat, oder ob das schon falsch beschriftet war von seinem Vater, kann ich mir aber nicht vorstellen. Und das war auch später, da war ich schon verheiratet. Ich seh schlecht aus, ganz dünn, nicht mehr das Mondgesicht wie auf dem Foto, das er damals mit der reklamierten Kamera von mir gemacht hatte, das ich selbst entwickeln durfte. Das hier, das muss kurz nach dem Krankenhaus gewesen sein.

Das Komische war, dass ich nachmittags noch Riesenappetit auf Sahnetorte hatte, das hätt mir vielleicht schon zu denken geben müssen, ich mach mir da sonst gar nix draus, aber ich hab Friedhelm losgeschickt, der musst mir ein Stück holen. Da hatte ich schon hohes Fieber, und dann die Schmerzen im Leib, das strahlte bis in den Rücken. Der Arzt, der den Hausbesuch machte, dachte denn ja auch, das wären die Nieren, und verschrieb mir dann son Medikament, ich weiß nicht mehr, was das war, aber so wie das gewirkt hat, muss das die reinste Pferdekur gewesen sein. Sowie ich die runterhatte, die Tablette, bekam ich son ganz ekliges Gefühl am ganzen Körper, das war, als wär ich gelähmt, als würd nur noch mein Hals irgendwo rausgucken, da hatt ich zum ersten Mal wirklich Todesangst. Friedhelm ist dann noch mal zur Telefonzelle und hat nen Krankenwagen gerufen, und ich weiß noch, als sie mich dann holten, ist Romy wach geworden und hat geschrien, nach Mama geschrien, und Mama musst nun los. Hätt ich da schon geahnt, wie dick das alles noch kommt … Das Stück Torte hab ich übrigens gleich wieder ausgespuckt. Mit Wahnsinnsbauchschmerzen dann zum Krankenhaus. Die haben mich gleich dabehalten. Ich dacht, ich bin übermorgen wieder zu Hause. Nach einer Woche dacht ich das nicht mehr. Nach einem Monat dacht ich, dass ich nicht mehr nach Hause komm. Da lag ich da immer noch mit aufgequollenem Bauch, ich weiß noch, das war ein Sonntag, und ich hab geschrien vor Schmerzen, ich konnt nicht mehr, ich hab einfach geschrien, bis sie gekommen sind und mir was gespritzt haben, ich glaub, das war Morphium. Jedenfalls hörten die Schmerzen auf. Aber ich war in einem Zustand, wo ich nicht wusste, ob ich tot oder lebendig bin, ich sah mich da liegen. Sie hatten mir ja gleich einen Schlauch in die Scheide geschoben, durch den egaleweg Eiter abfloss, ich weiß nicht, was die nun dachten, was das ist. Sie haben mich mit Penicillin vollgepumpt und mit Schlafmitteln für die Nacht und mich um halb sechs geweckt und gewaschen, mir tat alles weh, der Waschlappen auf der Haut. Visite. Sie haben nix gesagt. Doktor Krafczyk, der Chefarzt der Gyn, hat gesagt,»na, Frau Plötz«. Er hat nie gelächelt. Doktor Wehnig hat gelächelt, aber immer so schief. Die Schwestern haben keine Stelle mehr zum Blutabnehmen gefunden. Der schwarze Assistenzarzt aus Mosambik hat mir über die Stirn gestrichen und gesagt,»arme Frau Plöß«, er hat das tz immer wie ß gesprochen, ich musste immer weinen. Ich wollte nicht weinen, wenn Friedhelm kam, und vor meinen Geschwistern, meinen Eltern schon gar nicht. Friedhelm hat mir von Romy erzählt, die andern haben von Romy erzählt, dass sie sie kugelrund füttern, mein Vadder sagte stolz, sie isst fetten Speck, dass sie schon laufen kann, dass sie keine Angst hat vorm Hund. Später haben sie mir Bilder gezeigt, Romy dick eingepackt auf einem Schlitten im Schnee. Ich hab mein eigenes Kind kaum erkannt. Wenn sie raus waren, hab ich geheult. Ich war ja froh, dass sie sich alle so kümmern in Bresekow, das haben sie gemacht, ja, die waren rein verrückt nach Romy, meine Oma sowieso, sogar meine halbwüchsigen Schwestern. Trotzdem war mir das wie ein Alptraum. Das war mir jedesmal komisch, die zu sehen da in meinem Krankenhauszimmer, wie sie mit hängenden Köpfen um mein Bett rumstanden wie auf ner Beerdigung und versuchten, mit mir zu sprechen. Denn wie ich da so lag alle Tage, da dacht ich überhaupt nicht an früher, an meine Kindheit oder so, das war alles weg, und da war ich eigentlich froh drüber. Ich dacht eigentlich nur an die Zukunft, dass ich ein Kind hab, für das ich da sein will, ich musste doch für mein Kind da sein. Ich weiß nicht, ob die auch gedacht haben, ich komm nicht mehr wieder. Ich wollte das nicht denken, ich dachte, das darfst du nicht denken, reiß dich zusammen, iss was. Ich konnte nicht. Ich konnte nix mehr essen, gar nix mehr bei mir behalten. Verdacht auf Magen-Darm. Ich musste einen Schlauch schlucken. Die Schwester ließ mich mit dem Schlauch im Mund da liegen. Ich konnte keinen Schlauch schlucken, ohne kotzen zu müssen, ich musste kotzen, aber ich lag auf dem Rücken und kam nicht rum, ich kam nicht rum. Mit mir im Zimmer lag eine Bäuerin, die haben sie erst gequält, was die aushalten musste, aber die hat immer noch plattdeutsche Witze erzählt, und ich konnt doch gar nicht lachen mit dem Bauch. Wie die das mitkriegte, ist sie aus ihrem Bett raus und zu mir hin und hat mir einfach den Schlauch rausgerissen und dann erst geklingelt. Und da hat sie noch Mecker für gekriegt. Dass sie mir das Leben gerettet hat. Aber seltsamerweise dacht ich auch nie, dass ich jetzt wirklich sterben müsste, ich war ja noch so jung, ich konnt mir das nicht vorstellen, auch wenn mir das manchmal am liebsten gewesen wär, Schluss mit der Quälerei. Verdacht auf Darmkrebs. Sie haben nix gemacht. Meine Eltern und Friedhelm wollten eine Verlegung nach Greifswald in die Uniklinik, ich glaub, die hatten mehr Angst als ich. Die Ärzte wollten nicht, wer weiß weshalb. Ich wog noch sechsunddreißig Kilo. Sie haben diskutiert. Ich weiß nicht, ob das Absicht war, aber die Tür zu meinem Krankenzimmer stand auf, im Zimmer gegenüber saßen sie. Ich hab deutlich ihre Stimmen über den Flur gehört, die Stimme von Doktor Krafczyk, ich hab gehört, wie er gesagt hat,»ich mach sie auf«. Anscheinend waren nicht alle dafür. Keiner hat gerne nen Toten aufm OP-Tisch am Ende. Doktor Krafczyk sagte,»wir operieren, Frau Plötz«. Alle Ärzte würden dabei sein. Er hat mich noch mal untersucht, ich kam kaum noch auf den Stuhl. Als er fragte:»Wie viele Kinder haben Sie?«, wars aus. Ich kriegte nen Weinkrampf. Das war genau an Romys erstem Geburtstag.