Meine Mudder musste unterschreiben, Friedhelm, glaub ich, auch. Sie haben mir ein OP-Hemd angezogen, hinten offen, man kommt sich damit nackter vor, als wär man wirklich nackt. Das letzte Hemd, wie man immer so sagt, das fällt mir erst jetzt auf, das hab ich da nicht gedacht. Nur immer wieder: Du kannst nix machen. Sie haben mich dann auf den schmalen OP-Tisch gehoben, ich war ja leicht. So legen sie dich auch mal in den Sarg, das Gefühl hatte ich. Wenn man gar nix mehr machen kann. Die Narkose war einfach nur entsetzlich. Ich spürte genau den Tubus in meinem Hals, ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt, ich hatte furchtbare Angst, sie würden anfangen, mich zu operieren, ohne dass ich betäubt wär, ich wollt schreien, aber ich konnt ja nicht. Dann gab es richtig so was wien Schlag, ne Erschütterung durch meinen ganzen Körper, mir war, als würden mir Arme und Beine ausgerissen. Ein Arzt, dem ich später mal davon erzählt hab, hat mich ganz starr angeguckt und dann den Kopf geschüttelt:»Frau Plötz, das hätten Sie nie erleben dürfen. «Mir kam das auch teilweise nicht so vor: dass ich das bin, dass mir das alles passiert.
Als ich aufgewacht bin, wusst ich nicht, was los ist. Ich musste sofort kotzen. Dann merkte ich meinen Bauch, den großen Schnitt, einmal quer rüber. Ich traute mich nicht hinzugucken. Doktor Krafczyk wirkte erleichtert. Er sagte, sie hätten erst gar nichts gesehen, vor lauter Eiter. Alles verklebt. Dann hätten sie endlich die Ursache gefunden. Normalerweise wär ich tot gewesen, mit einem geplatzten Blinddarm. Aber irgendwas hatte sich abgekapselt, der Eiter war nicht in die Blutbahn gelangt, hatte mich nicht vergiftet. Ich hab das nie genau kapiert, es war mir auch egal, zu dem Zeitpunkt war mir alles so egal, ich lag da mit meinem zugenähten Bauch voller Schmerzen und wollt keinen sehen, nicht mal Friedhelm, ich wollt nicht, dass er mich so sehen muss. Ich wollte Romy sehen, mein Kind, und das ging nicht. Es ging überhaupt nix. Ich konnt nicht gehen, ich kam überhaupt nicht hoch, ich durfte auch nicht. Ich konnt nicht essen, aber ich musste. Mein Körper vertrug die künstlichen Fäden nicht, es heilte nicht, ich kriegte Fieber. Sie haben die Fäden wieder rausgezogen. Ich lag da mit einem offenen Bauch. Sie haben mir Mull, Drainagestreifen in die Wunde gestopft. Jeden Morgen neue. Jeden Morgen mussten sie die alten rausziehen, und die klebten. Ich konnte mir ein Leben ohne Schmerzen gar nicht mehr vorstellen, ein normales Leben wie vorher, das kam mir wie das Paradies vor. Ich dachte, das ist für immer vorbei. Nach diesen drei Monaten wusst ich ja kaum noch, dass es so was wie draußen, die Welt da draußen, Jahreszeiten und so, dass es das alles gibt, für mich gabs das nicht mehr. Ich war nur noch ein Strich, ich hatte nie gute Werte, ich hatte ganz verknorpelte Venen, am Ende haben sie mich in den Fuß gestochen. Ich dacht, sie entlassen mich nie. Aber mitten im Winter kam ich raus. Die Sonne schien, und es lag ein ganz klein wenig Schnee. Die paar Schritte zum Taxi ging ich wie auf Eiern, auf Friedhelm gestützt. Zu Hause konnt ich mein Kind nicht auf den Arm nehmen. Ich durfte auch nicht.»Sie dürfen nicht schwer heben«, haben sie gesagt,»auch später nie«. Ich konnte keine Kinder mehr bekommen. Alles verklebt. Mein Kind erkannte mich nicht. Sie hatte Angst vor mir. Ich hatte Angst, dass das so bleibt, dass ich gar kein Kind mehr hab. Ich hab ihr ALLE MEINE ENTCHEN vorgesungen, da hat sie meine Stimme erkannt, oder ich weiß nicht, irgendwas an mir muss sie doch an ihre Mama erinnert haben.
Dann ging der Schnitt wieder auf. Ich merkte, wie es plötzlich warm und nass wurde, ich weiß noch, Romy stand vor mir und guckte mich an, und ich zog vorsichtig mein Hemd hoch. Ich wollte nicht heulen. Sie wollten mich wieder dabehalten. Aber ich hab mich geweigert, ich hab gesagt:»Nein. «Einfach nein. Ich glaub, ich bin eigentlich gar kein Typ, der was aushält, ich hatte einfach Angst. Sie haben mir erlaubt, jeden Tag zu kommen, um die Wunde versorgen zu lassen. Irgendwie heilte es dann.
Ich hab wieder gearbeitet, ziemlich schnell, aus der Zeit muss das Foto sein. Zu Romys zweitem Geburtstag haben wir die ersten Farbfotos gemacht. Meine spitzen Knochen gucken durch meinen Pullover. Später kam mal eine der Schwestern in den Laden, sie freute sich, mich gesund zu sehen.»Frau Plötz«, sagte sie,»jetzt kann ichs Ihnen ja sagen, also, wir haben da alle nicht mehr an Sie geglaubt.«— Komisch, das ist so lange her, aber das ist fast immer noch das gleiche Gefühl, wenn ich da heute dran denk. Das war wien Schock, ich musst erst mal nach hinten und mich ausheulen. Da hab ich das erste Mal wirklich wieder an Gott gedacht, dass es den wohl doch geben muss.
Ich wollt alles anders machen. Ich wollt mich nie mehr mit Friedhelm streiten. Ich wollt mein Kind ganz anders erziehen, sowieso. Ich wollt nie wieder jammern. Aber solche Sachen halten drei Wochen, drei Monate, wenns hoch kommt, dann ist man wieder drin im alten Trott. Der Mensch ist komisch. Man macht nie das, was man will. Sondern immer nur das, was man kennt. In- und auswendig. Bloß sich selbst kennt man nicht. Und den andern eigentlich auch nicht. Kennt mich einer?
Außerdem mach ich morgen was Verrücktes. Ich geh nicht zum Bibelgesprächskreis. Überhaupt nicht mehr. Ich fahr zum Chor nach Schmalditz, das wollt ich schon lange. Die haben da jetzt echt gute Leute, das kriegt richtig Qualität, ich hab die schon paar Mal gehört, und Brigitte hat auch zu mir gesagt,»Mensch, komm doch zu uns, mit deiner Stimme!«. Dabei kann ich nicht mal Noten lesen.»Kann doch keiner«, hat sie gesagt. Ich wollt ja sofort, aber blöderweise fällt die Probe genau auf den Bibel-Abend, tja. Tja.
ROMY
Das wars also, denk ich die ganze Zeit, mein Kopf ist mit diesem Satz gefüllt wie mit Watte, verstopft mit einer weichen, betäubenden Knirschigkeit, das wars. Jetzt hocken wir hier wie in Wodka getunkte späte Fliegen, zu Schmetterlingen hats denn wohl doch nicht gereicht. Ich denke an vorgestern, als wir fast ebenso wortlos aus Ueckermünde zurückkamen, Paul sich nur immer wieder bedankte, dass wir mitgekommen seien, dass Ella es ihm gesagt habe. Wir sind natürlich nicht mit rein, sondern mit kaum zu gebrauchenden Gefühlen, kaum zu fassenden Gedanken durch die Stadt geschlichen, erst am Haff wurde uns etwas besser.»War das jetzt richtig?«, hat Ella gefragt, und ich konnte nur mit den Schultern zucken, weil ich gar nicht mehr wusste, was das bedeuten solclass="underline" richtig. Richtig vorstellbar war mir das ohnehin nicht, ein Halbbruder, dieser Halbbruder, und wie Paul ihm jetzt gegenübersaß, was redet man mit einem, der einem fremder nicht sein könnte und gleichzeitig auf so fatale Weise verbunden ist?