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Wir warteten ein paar Meter vom Ausgang auf ihn, ich sah ihn schon von weitem, noch hinter der Glastür, sein rotes Gesicht. Wir winkten ihm zu, nicht wie jemandem, der auf uns zukommt, eher im Gegenteil. Ella zündete sich die nächste Zigarette an, Paul fischte sie ihr aus den Fingern. Nach zwei, drei Zügen hielt er sie mir hin, ich nahm sie ohne Zögern, inhalierte tief und gab sie benommen an Ella zurück.

Den Wodka übrigens hab ich heute nach der Schule mit ihr zusammen gekauft, sie war auch gleich dafür, als ich es vorschlug, was mich komischerweise überraschte. Wahrscheinlich bin ich es einfach nicht gewohnt, gute Vorschläge zu machen, das heißt, nicht mehr. Früher war es mir selbstverständlich, die beste Idee zu haben, und meine Freundinnen tanzten nach meiner Pfeife. Wir bauen eine Höhle. Wir spielen Friseur, du bist die Kundin. Wir schütten deinem Bruder Waschpulver ins Badewasser. Keine Ahnung, wo sie alle geblieben sind, die Freundinnen, die Ideen, die ganze sogenannte Kinderzeit. An der Kasse mussten wir nicht mal unsere Ausweise vorzeigen, was ja eigentlich als Triumph zu verbuchen ist. Ich schreibe es aber Ellas Anwesenheit zu, und fast erleichtert mich das. Übrigens sahen wir Tobias, also ich. Ich hatte gar nicht daran gedacht, hatte zum ersten Mal mein ausgefuchstes Observationssystem vernachlässigt, dem ich in letzter Zeit sowieso nur noch routinemäßig gefolgt war. Freitags in der ersten Pause vor Raum 5, dienstags auf dem Weg zum Chemieraum, wo ich sowieso kaum noch einen Gruß für ihn habe, weil ich meistens mit Ella schwatze, mittwochs nach der Schule bei PENNY. Ich warf noch Chips und Schokolade mit aufs Band, wir teilten uns den Preis, aber jetzt bin ich die Einzige, die davon nascht, um nicht zu sagen, Unmengen davon in sich reinstopft. Ich weiß verdammt noch mal, dass das eine Übersprungshandlung ist, ich habe eine Eins in Bio. Aber warum sagt denn bloß keiner was! Das ist der letzte Abend. Und der geht einfach so vorbei, vorbei wie jeder andere, und ich wundere mich irrsinnigerweise wieder mal über diese Taubblindheit der Zeit, die aber auch gar nichts merkt, kein bisschen langsamer, besonderer vergeht. Unsere Unfähigkeit. Als ob uns wirklich nichts bleibt, außer uns sinnlos zu betrinken, zu sein wie alle anderen. Ach Paul, warum musstest du herkommen, in dieses Kacknest, ein Bernstein im Hinterland, unmöglich, wo man schon am Strand keine findet. Mama wusste wohl gar nicht, was sie sagte, als ich ihr in einem früheren Einsamkeitsanfall mal mein Leid klagte — und da ahnte ich ja noch nicht mal, wie schlimm es werden kann, denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man noch oder wieder einsam ist — und sie dann echt den Spruch mit dem Huhn brachte. Ich war natürlich beleidigt. AUCH EIN BLINDER TRINKER FINDET MAL EINEN KORN. Ich muss grinsen, obwohl mir zum Heulen ist. Ach, Paul. Nur damit ich dich sehen kann? POETRY IN MOTION, ha? Nur damit ich gezeigt kriege, was ich niemals haben kann? Danke, war nicht nötig. Haben. Sein. Alles Blödsinn. Abschied nehmen. Das ist geradezu absurd. Man weiß, derjenige wird morgen um die Zeit nicht mehr da sein, ich meine, man weiß schon ganz, wie es sein wird, man hat die Traurigkeit schon in sich, wie eine Krankheit, die unerwartet früh ausgebrochen ist, man könnte fast sagen, die Inkubationszeit ist abgelaufen, bevor der eigentliche Erreger eindringen konnte, oder wie bei Pilzvergiftungen, wo schon die Vorstellung genügt, einen Giftpilz verzehrt zu haben, um echte Symptome auszulösen. Hinkt wahrscheinlich alles. Aber überhaupt, Pilze: Von wegen, man härtet ab mit der Zeit. Es gibt Pilze, die kann man eine ganze Weile lang essen. Und dann kommt das Mal, das Mahl, ja, zu viel, die endgültige Vergiftung. Ich glaube, morgen ist es so weit. Jedenfalls, soviel Schizophrenie muss man erst mal aufbringen, an einem Abschiedsabend normal zu wirken. Der, der schon weg ist, sagt:»Was denkt ihr: Wer war es?«

Ella schielt über den Rand ihres Glases, wir trinken Wodka aus Whiskeygläsern, echt Bleikristall, jetzt zweite Garnitur aus dem Küchenschrank, ihre Mutter trinkt stilles Wasser draus, Ella nimmt noch einen Schluck vom Wässerchen, dann sagt sie langsam:»Wer war was?«

«Die Elpe!«, sagt Paul.»Das Feuer. Denkt ihr, es war …«

Die LP! Ich werde es nie wieder anders denken können.

«Der doch nicht!«

«Wer?«Ich gucke Ella erstaunt an, sie wirkt plötzlich wieder munter.

«Ecki!«, stößt sie verächtlich hervor. Dabei scheint Ecki doch der Einzige zu sein, dem so was ernsthaft zuzutrauen wäre. Andererseits auch wieder nicht, Ellas Entschiedenheit leuchtet mir plötzlich ein. Das ist nicht die Tat eines Maulhelden. Eher schon eines Sven mit Iltisblick.

«Keine Ahnung«, sag ich.»Wahrscheinlich das, wonach es aussieht: die kleine Kokelei ist ein bisschen außer Kontrolle geraten. Also dieser Gniedeck. Oder Börner. Oder die bewährte Kollektivschuld.«

Paul lacht, obwohl ich bezweifle, dass er das verstanden hat. Aber er sagt:»Burner? They call’im Burner?«

Wir lachen mit. Ella winkt ab.»Ist doch egal. Weg ist weg.«

Weg ist weg, denke ich. Ob ihr das wirklich so leichtfallen wird? Ich kann nicht glauben, dass dieser Satz nicht auch für sie ein scharfer, oder schlimmer: ein stumpfer Schnitt ins Fleisch sein sollte, ins eigene am Ende. Sie gehört zu den Menschen, die sich selbst am besten verletzen können. Für einen Moment überlege ich, ob es Ella gewesen sein könnte. Ob sie die Elpe angezündet hat. Hoffentlich nicht, denke ich sofort, aber in dieses Vernunftpapier ist die andere Hoffnung eingewickelt, nämlich dass es sich ganz genau so verhält. Ich wünsche es mir. Ihr. Und vielleicht nur, um einen handfesten Grund für meine heimliche Bewunderung zu haben. Aber ich muss aufhören, sie zu verdächtigen.

Paul schenkt nach, bei jedem anderen würde ich denken, er beabsichtige, uns besoffen und willenlos zu machen, vor allem bei jedem, der dazu so aufreizend vor sich hinpfeift. Ich bin willenlos, mein Gott. Ich kenne die Melodie. Paul grinst, ohne mich anzusehen, als hätte er es bemerkt. Er kriegt gleichzeitig ein Pfeifen-perfectly-in-tune und ein Widerstand-ist-zwecklos-Grinsen hin, was mich nochmals in meiner Ansicht bestätigt, es bei ihm mit einem Wesen von einem anderen Stern zu tun zu haben. Und alle Vorsicht in den vorpommerschen Wind geschlagen, tja. Als er mich schließlich anblickt, ist das wie das Zeichen zum Einsatz, ich fange an zu singen, synchron mit ihm.

HEY JUDE, DON’T MAKE IT BAD, TAKE A SAD SONG AND MAKE IT BETTER, REMEMBER TO LET HER INTO YOUR HEART, THEN YOU CAN START TO MAKE IT BETTER.

Ich weiß nicht, was mich treibt, warum ich jetzt plötzlich lauter singen muss als die beiden zusammen, denn Ella, sie singt ja auch mit, Tatsache, leise und sicher, und ich schmettere hier los, als müsste ich singen für zwei, für die fehlenden Flusskrebse womöglich. Wir singen das Ding runter bis zum Ende, alle Strophen wie in der Kirche, wenn der Klingelbeutel rumgereicht wird und das Lied dann doch immer länger ist als — ja, als was? Mir fällt nichts mehr ein, außer das, was ich gerade auf der Zunge habe, also nur noch NANANANA, also: muss der Wodka sein, endlich. Wir lächeln uns zu wie die Engelein. Muss der Wodka sein.

Da fragt Pauclass="underline" »Ihr wisst, was John Lennon am Ende von STRAWBERRY FIELDS sagt, I mean: angeblich?«

«Angeblich «ist neu. Manchmal habe ich den Verdacht, er verstellt sich, er spricht in Wirklichkeit besseres Deutsch als wir.»Ja«, sage ich bloß, und Ella:»Wieso?«

«Na ja, es gibt diese — rumours …«, er sieht mich fragend an,»Gerüchte«, sage ich, und komme mir vor wie eine aus reiner Gutmütigkeit angestellte Souffleuse, der die Schauspieler ab und zu das Gefühl geben müssen, sie werde wirklich gebraucht.

«… Gerüchte, ja, dass Paul tot ist, also, Paul McCartney«, er lächelt, oh, ich weiß, er weiß alles.»Und dass sie ihn ersetzt haben mit ein Double.«