Ella lacht. Das Gefühl, dass sie mich auslacht.»Du wusstest das?«
«Es gibt ziemlich viele Hinweise«, sage ich, als müsste ich die Internationale Union der Spinner und Fabulanten verteidigen,»angeblich. «Ich sehe Paul an, er nickt. Als hätte ich etwas richtig gemacht. Ich räuspere mich.»Zum Beispiel, dass er barfuß geht auf dem Abbey-Road-Cover, das ist ein Mafia-Symbol dafür, dass jemand tot ist. Vor ihm John, ganz in Weiß, er könnte den Priester darstellen, George in Jeans, was ja mal Arbeitskleidung war, den Totengräber. Und Ringo geht in Schwarz hinterher. Alles klar? Ach ja, und dann noch das Auto im Hintergrund, der Käfer …«
«Yeah, 28 IF, that means — achtundzwanzig falls, oder wenn, wie sagt ihr? Also, er wäre achtundzwanzig gewesen das Jahr«, er flüstert jetzt fast, schelmisch,»aber nur, wenn er noch lebendig gewesen wäre.«
«Oder das Zeichen, das John über seinem Kopf macht auf YELLOW SUBMARINE, oder dass er auf einem Booklet-Foto von MAGICAL MYSTERY TOUR nicht wie die anderen eine rote, sondern eine schwarze Nelke hat, und es wurden auch lauter Zeilen aus Songtexten so interpretiert, WEDNESDAY MORNING FIVE O’CLOCK, der Zeitpunkt des Autounfalls …«Ich merke, wie aufgedreht ich bin. Aber Paul lächelt nur.»Well — solche Sachen.«
«Wow«, sagt Ella schmunzelnd.»Und jetzt hält Romy dich anscheinend für so eine — na, äh — Reinkarnation oder so was …«
«Ach, spinn nich rum!«, fall ich ihr ins Wort. Was denkt sie sich eigentlich!» Paul ist Paul.«
Sie grinst.»Welcher?«
Dann sind wir auf einmal wieder stumm wie die Fische und glubschen auf unsere Gläser. Ich kipp mir den Rest schnell hinter — was Mama jetzt wieder zu diesem laschen Witzchen mit» hinter die Binde «reizen würde, dieser frivolen Verschämtheit, von wegen, so was könne man als Frau ja nicht sagen. Als Frau! Oh Mann. Ich gönne mir noch einen.»Noch jemand?«, frage ich, die Flasche schwenkend. Sie winken beide ab, Spielverderber. Dann eben nicht.»Prost!«, rufe ich und trinke, trinke auf Pauls McCartney-Schönheit, auf Ellas Mut, auf alles, was mir jetzt nicht einfällt, und den Pickel an meinem Kinn und Bresekow, was weiß ich. Wenn alles literaturfähig ist, dann ist erst recht alles trinkfähig, oder? Ist das logisch? Wahrscheinlich ist nicht alles logikfähig, wahrscheinlich gar nichts. Immer alles oder nichts, ja ja. Früher war das Schlimmste, bei MENSCH-ÄRGER-DICH-NICHT knapp zu verlieren, knapp zu gewinnen das Beste. Ich mochte das nicht, wenn ich alle vier im Haus hatte und der andere erst einen, es befleckte meinen Sieg irgendwie, mit Mitleid. Andererseits, wenn ich merkte, dass ich am Verlieren war, gab ich mir gar keine Mühe mehr, ich hab nie wirklich gekämpft, im Gegenteil, extra schlecht gespielt, und die Kunst war, es den andern nicht merken zu lassen; die Resignation war mir immer näher, die vollkommene Niederlage, das Selbstmitleid. Ich weiß, ich muss irgendwann aufhören damit. Wenn ich erwachsen sein will. Oder falls. Ich hab auch nie gerne mit reparierten Sachen gespielt, das heißt zuerst, wenn sie frisch geflickt, wiederhergestellt waren, der Kopf wieder auf dem Puppenhals; ich wusste, da war ein irreparabler Makel, es würde nie mehr so wie vorher sein, und ich heulte vor Widerwillen, und heulte ja über nichts anderes als das Vergehen der Zeit, die unweigerliche Abnutzung. Dann aber, wenn Mama sie mir wegnehmen wollte, genauso empfand ich das nämlich, um sie» anderen Kindern «zukommen zu lassen, weckte das eine Panik und Wut in mir, die dazu führte, dass ich die alten Puppen, die lädierten Plüschtiere um keinen Preis mehr hergeben wollte und sie nur umso fester ins Herz schloss und das Versprechen auf neue als völlig inakzeptabel ablehnte. Vor allem, welche anderen Kinder denn! Es gab doch nur mich. Ich kann nicht sagen, dass diese Gefühle inzwischen nachgelassen hätten. Ich kann sie inzwischen nur benennen. Ich weiß, dass man nicht ewig und drei Tage an was hängen kann. Aber ich weiß auch, dass man nicht an nichts hängen kann, und außerdem glaube ich grundsätzlich nicht an Ersatz, schon das Wort! Schöne Scheiße. Muss mal mit Ella darüber reden, vielleicht …
Mitten in meine erbärmlichen, aber in Anbetracht meines Zustandes — oder nur betrachtet in meinem Zustand? — doch recht schlüssigen Überlegungen sägt die Stimme von Ellas Mutter:»Kommt ma bitte zum Schluss!«
Zum Schluss? Das Wort gehört abgeschafft.»Abgeschafft!«, sage ich laut. Paul sagt:»Komm, ich bring dich nach Hause.«
Was soll das? Woher dieses Einverständnis, diese geschmacksneutrale Einsicht in die Notwendigkeit, als ob wir jetzt wirklich zu Bett gehen könnten und schlafen. Und morgen früh aufwachen und sich wie gehirngewaschen nicht an den Traum erinnern. Und warum bin ich es jetzt wieder, die das sagen, die den Knoten ins Taschentuch machen muss?» Was ist mit den Adressen?«
«Achso«, sagt Ella und guckt unschlüssig von mir zu Paul und zurück, bevor sie sich hochbequemt und Papier und Stift holt. Wie ich Ella so mit links schreiben sehe und dann Paul mit rechts, kommt mir das wie eine infame Vertauschung vor, eine Verschwörung fast. Er reißt einen breiten Streifen ab und den noch mal in der Mitte durch, die eine Hälfte gibt er mir, die andere Ella. Natürlich steht auf ihrem Zettel das Gleiche wie auf meinem, aber für einen blöden Moment habe ich die Idee, Paul könnte einer von uns eine falsche Adresse gegeben haben. TWO OF US SENDING POSTCARDS, WRITING LETTERS. Oder beiden. Sowie ich ihm meinen Schnipsel reiche, bin ich sicher, dass ich mich verschrieben habe, meine alte Anklamer Adresse hingeschludert oder irgendwas. Aber ich bin stark, ich überlasse es dem Schicksal, zur Not Ella.
Als Paul sie jetzt umarmt, zwei Minuten bestimmt, will ich ihr wieder gar nichts überlassen, bis mir einfällt, dass das für mich ja erst noch kommt, und sofort bin ich bereit, sie zu bedauern, wie früher kurz vor meinem Geburtstag meine Freundinnen, die schon Geburtstag gehabt hatten. Ich sehnte ihn ja immer herbei, aber kurz vorher fing eine Gegenkraft in mir an zu walten, eine angstgeborene Verzögerungslust, er sollte kommen, dieser Tag, und sollte nicht kommen, denn gekommen war so gut wie vorbei, und am Abend dieses Tages, wenn alle weg waren und ich schließlich doch ins Bett musste, passierte es nicht selten, dass ich weinte.
«Bis zum Bus«, sage ich zu Ella an der Tür, fast hätte ich sie auch umarmt.
«Fünf Stunden«, sagt sie leise und halb in den Wind, als sollte nur einer von uns es hören. Oder keiner.
Paul kommt mir viel zu nüchtern vor. Ich habe mich wie selbstverständlich bei ihm eingehakt, und immerzu denke ich nur, das ist das letzte Mal, das letzte, kapierst dus nicht, du musst doch was sagen, bloß was, doch nicht das, gibts denn nichts anderes, Wind und Wetter, kennst du den schon? Alles weg, jetzt schon. Ich gehe, tapse vor mich hin in diese mondlose Nacht, als gäbe es immer nur den Fleck, auf den wir gerade unsere Füße setzen, jeder Schritt ein ungeheurer Vertrauensvorschuss auf die Materialisierung des nächsten Flecks, wie es mich erschöpft. Das elende Hoffen und das langweilige Erscheinen, es geht einfach immer weiter. Ich will das nicht. Das Hinwegkommen über jeden Fleck.»Bleib doch hier«, sage ich müde und mache die Augen zu. Ich lasse mich von Paul führen bis vor meine Haustür. Jemanden führen ist eben was anderes als jemanden entführen, sagt mein Schnapskopf. Was anderes.
Dann stehen wir uns gegenüber in dem dünnen Türlicht, der Wind bläht meine Jacke auf, als wolle er den Abstand zwischen uns verringern, sollte ich doch noch einen Verbündeten haben in dieser Nacht, er zerbläst Paul die dunklen Strähnen, dass ich seine weiße Stirn sehen kann, EBONY AND IVORY, ich weiß plötzlich, dass es dieses Bild ist, das wieder und wieder in mir aufsteigen wird. Ich will ihn schon umarmen, als er sagt:»Ein Moment«, und mit zwei Fingern etwas aus seiner Innentasche hervorzieht,»voilà!«.