Später hab ich dann gehört, dass sie wohl schon mich gar nicht mehr haben wollte, nach den beiden Jungs, sie soll geheult haben, als sie gemerkt hat, dass sie schon wieder schwanger ist, meine Oma hat mir das alles erzählt, auch, dass mein Vadder mal zu meiner Mudder gesagt hat, dass ich wohl gar nicht sein Kind wär, und meine Mudder hat nix dazu gesagt. Sie hat nix dazu gesagt. Ich weiß nicht, ob sie nun wirklich was mit dem Beschke gehabt hat, wie die immer gesagt haben, der war ja unser Nachbar, und als ich das dann erst gehört hatte, hab ich den, glaub ich, immer ganz komisch angeguckt und versucht, mir vorzustellen, dass das mein Vadder ist.
Fakt ist, dass ich wirklich anders war als die andern, anders als meine Brüder sowieso, und auch mit Elke und Marlies, die sie dann nach mir auch noch bekommen hat, hatte ich fast gar nix zu tun, die waren mir total schnurz, obwohl ich die auch niedlich fand als Babys, und besonders Marlies haben die ja betüdert, na und Elke war ja Vadders Liebling. Ich war auch drei Jahre älter, und die beiden waren nur ein Jahr auseinander, genau wie die beiden Jungs, und ich musste bloß immer auf die aufpassen, das weiß ich noch. Wie ich das gehasst hab. Da wollt ich nachmittags zu meiner Freundin, sonnabends, wenn endlich Wochenende war, und dann hieß das,»nee, du bliwwst hier, eener mööt up de Lütten uppassen«, und» eener «war natürlich wieder ich.
Und da hab ich mir denn immer vorgestellt, dass das gar nicht wirklich meine Geschwister sind, dass ich gar nicht zu dieser Familie gehör und die mich nur ausnutzen und ich bloß ihre Magd bin — ich hab mir das immer vorgestellt wie in den Märchenfilmen — , aber eines Tages würden die noch alle zu mir aufschauen, und dann würd ich denen entweder die kalte Schulter zeigen — das hab ich natürlich immer gedacht, wenn ich schon geheult hab, vor Wut — , oder ich wär die Großzügigkeit in Person und würd nur abwinken und sagen, ach, schon gut. Oder ich würde sterben. Den Gedanken hatte ich oft. Ich hab mich hinter unserm Haus zwischen den Büschen versteckt und mir die Augen ausgeheult und mir dann ausgesponnen, ich würde sterben, und wie sie denn alle an meinem Grab stehen und um mich heulen würden. Was mich nur noch mehr zum Heulen gebracht hat, und da hockte ich denn zwischen den Stachelbeeren, und die dicken Fliegen schwirrten um mich rum. Eklige Biester, aber die waren überall, auch drinnen, besonders in der Küche, gleich gegenüber war ja der Bullenstall, und deswegen haben die denn immer diese Fliegenfänger aufgehängt, diese klebrigen Dinger, die aussahen wie Wurstpelle, die baumelten überall von der Decke, keine zwei Tage, da waren die schwarz. Ich mocht im Sommer nie meine Freundinnen bei uns reinlassen. Später gabs dann dieses Insektenspray, Mux, davon war ja meine Oma so begeistert; wenn meine Mutter in die Stadt gefahren ist, hat sie ausm Fenster gerufen,»bring mi noch eis MUX mit«, und abends, bevor wir beide da oben in unserer Dachkammer zu Bett gegangen sind:»Ick glööw, wi mööten noch eis muxen. «Romy wollt sich kaputtlachen, als ich ihr das erzählt hab. Dabei mochte die als Baby auch überhaupt keine Fliegen, sie hat dann immer so schreckhaft mit dem Kopf gezuckt, und später, als sie sprechen konnte, mich besorgt angeguckt und:»Mama, Fiege!«gesagt und dabei so die Stirn ganz kraus gemacht, und Mama hat die» Fiege «weggescheucht.
Wenn meine Mudder dann nach mir gerufen hat,»Sonja! Sonja!«, hab ich immer Angst gehabt, dass sie mich findet, und ich wusste nicht, was dann schlimmer gewesen wär, das Gemecker, weil ich mich nicht gemeldet hab, oder die Frage, warum ich denn geheult hab. Das hätt ja keiner verstanden, verstehen wollt mich da sowieso nie einer, außer meine Oma vielleicht, der hab ich fast alles erzählt, besonders abends, wenn wir da beide im Bett lagen und ihr Kofferradio noch son bisschen vor sich hindudelte, manchmal kam sogar was Modernes, altmodisch war sie eigentlich nicht, meine Oma. Sie hat auch mit mir Fernsehn geguckt, auch meine Sendungen, und wenn denn da sone langhaarige Gruppe auftrat, hat sie gefragt:»Sün dat de Büdels?«Mit so was hat sie mich immer zum Lachen gebracht, ich glaub, sie wusste das auch.»De Büdels«, das war ja sozusagen n Schimpfwort:»Wie süühst du denn ut, wien Büdel!«Herbert mit seiner toupierten Matte hat das öfter zu hören gekriegt, das war eigentlich der Befehl, schleunigst zum Frisör zu gehen. Meiner Oma war das egal,»loot em doch«. Sie war da nicht so, obwohl sie ja da schon alt war, und dann war sie später auch noch die Oma Hilda für Romy, wenn man sich das mal überlegt, sie war ja die einzige Oma, die sie hatte. Ich glaub, an meine Mudder erinnert Romy sich gar nicht mehr, ich weiß gar nicht, ob sie ›Oma‹ zu der gesagt hat. Mit meiner Mudder konnt ich nicht reden. Ich hab sie lieb gehabt, sie war schließlich meine Mutter, aber mal drücken oder so, das konnt die mich nicht. Da stand sie immer ganz steif, wenn ich, wie ich noch lütter war, ihr in die Schürze kriechen wollt, wenn ich geheult hab,»nu is ja wedder gaut«, hat sie denn bloß gesagt. Später hab ich mich denn woanders verkrochen, alleine.
Aber einmal, das weiß ich noch, och, das war schlimm. Das war, als ich sie mit dem Messer geschnitten hab. Ich weiß gar nicht mehr, ich sollte irgendwas durchschneiden, ich glaub, ein Stück Wäscheleine, und meine Mutter hielt mir das so mit beiden Händen stramm hin,»schnied eis dörch«, und das ging schwer, und denn hab ichs auch durchgeschnitten, aber bin irgendwie abgerutscht mit dem Messer, und das war ausnahmsweise mal scharf, sonst gabs bei Stöwsands ja immer nur stumpfeGniewen, das war gleich mit das Erste, wodrüber Friedhelm sich mokiert hat, na jedenfalls: rutsch ab und schneid ihr doch in’n Arm, und das Blut spritzte gleich. Ich das Messer fallen lassen und nix wie weg, ich bin gerannt, gerannt, sone Schiss hatt ich. Wovor eigentlich? Die Mutter verletzen, was Schlimmres konnt ich mir gar nicht vorstellen, ich dacht, die reißen mir den Kopf ab, das war nicht bloß Angst vor der Strafe, ich fand mich entsetzlich, ich glaub, ich wollt am liebsten vor mir selber weglaufen.
Ich hab mich dann den ganzen Nachmittag irgendwo versteckt und mich erst abends wieder nach Hause getraut, und da stand meine Mutter in der Küche, mitm dicken Pflaster überm Arm, und die hat dann gesagt:»Kümm eis hier. Dat wier doch nich so schlimm!«, und dann hat sie mich kurz in den Arm genommen, aber ich stand da wie bedäppert.
Aber selber konnte sie auch überhaupt nicht mit so was umgehen, ich glaub, wir können alle kein Blut sehen, zum Beispiel Elke ist dann ja immer gleich blau angelaufen und hat nach Luft geschnappt und ist umgekippt. Einmal mitten im Kornfeld, und weg warse! Ich weiß gar nicht, wie die das beim Schlachten gemacht haben, ich hab mir mitm Kopfkissen die Ohren zugehalten, wenn das losging, wenn ich die Schweine quieken hörte. Und dann kam der besoffne Trichinenbeschauer, und wir Gören haben immer» Maschinenbeschauer «gesagt, weil wir gar nix damit anfangen konnten, na, war vielleicht auch besser so. Der linste dann kurz durch sein Mikroskop und sagte immer:»Alles in Ordnung«, und schon stand der Schnaps aufm Tisch. Und abends gabs Schwarzsauer, da haben die sich alle zehn Finger nach geleckt, besonders meine Mudder. Mir wurd schon vom Geruch ganz anders. Und meine Oma! Da war die ja gar nicht zach: die Gänse mit der Schere in’n Kopp gebohrt, nee! Und meine Mudder hat die Schüssel drunter gehalten. Das darf man ja heut gar keinem mehr erzählen.
Aber wie ich da vom Schlittschuhlaufen mit dem Loch im Kopp nach Hause kam, wusst meine Mudder gar nicht, was sie machen soll, und hat mich bloß entgeistert angeguckt und gesagt:»Sonja! Wat hest du denn mookt?«
Ich weiß gar nicht mehr, wie alt ich da war, vielleicht zweite oder dritte Klasse, und wir haben ja im Winter auf dem Teich beim Kulturhaus immer Eiskunstlaufen gespielt, erst haben wir uns Gaby Seyfert und Sonja Morgenstern und die andern im Fernsehn angeguckt, und dann sind wir selber los, und das waren noch so Schlittschuhe, eigentlich bloß Kufen, die man an die Schuhe schrauben musste, wovon dann die Schuhe mit der Zeit auch kaputtgegangen sind und weshalb unsere Eltern das gar nicht so gerne gesehen haben, da hieß das bloß immer:»Glööw nich, dat ick di n poor nieje kööp!«Aber wenigstens waren wir draußen, in der Bude hocken, das gabs ja nicht.