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Ich weiß noch, dass ich an dem Tag Gaby Seyfert war, das wollte jede immer sein, und ich war ja sonst auf Sonja Morgenstern abonniert, Sonja musste logischerweise Sonja sein, wodrauf ich auch ein bisschen stolz war, trotzdem mocht ich meinen Namen nie. Vor allem wegen der Margarine. Das war wirklich kurios, aber das konnte ja keiner ahnen, dass die sich so was ausdenken. Meine Freundin hieß Marina, wir sind bloß drei Tage auseinander, und kurz nach unserer Geburt kamen dann diese beide Margarinesorten auf den Markt: SONJA und MARINA. Unmöglich!

Aber an dem Tag jedenfalls durfte ich Gaby Seyfert sein und ich war stolz auf meine Pirouetten, also wenn man sich zweimal rumdrehen konnte, das war schon was, das gab dann schon mindestens ne fünf komma acht. Bloß dann bin ich auf einmal hintenüber gefallen und mit dem Hinterkopf auf ein Stück von soner Eisenstange, die da im Eis steckte, in dem Tümpel lag ja alles Mögliche rum, vom Krieg noch oder was weiß ich, ich glaub, die haben auch alle ihren Müll da reingekippt, aber ich bin dann wieder aufgestanden, mit brummendem Schädel, und sag noch,»ach, nich so schlimm«. Aber denn merkte ich schon, wie das ganz warm wurde an der Stelle, die wehtat, und als ich meine Mütze abgenommen hab, war da ein großer Fleck drauf. Das war so helle Wolle gewesen, meine Oma hatte mir die gestrickt, und die saßen immer ganz eng, diese Mützen, ich mocht die eigentlich nicht, und ich dacht bloß, dass das aber Mecker gibt, wenn die das sehen,»dat geiht doch nich miehr ruut«. Ich hab bloß auf diesen Fleck gestarrt, es wurd schon dunkel, und das Blut sah ganz schwarz aus. Ich hab mich gar nicht getraut, meinen Kopf anzufassen, meine Freundinnen haben mich bloß ganz erschrocken angeguckt und gesagt,»du musst nach Hause, Sonja, los, ihr müsst zum Arzt«, und dann bin ich nach Hause gerannt, ich stand so unter Schock, ich hab nicht mal geheult. Und meine Mudder sagte denn bloß:»Du möötst tau de Schwester, du möötst tau Schwester Ruthchen goohn!«

«Kommst du nich mit?«, hab ich sie gefragt, und da hat sie angefangen zu heulen und bloß wieder gesagt:»Gooh tau Schwester Ruthchen! Ick künn dat nich. Nu gooh!«, und dann musst ich los. Sie hat mich wirklich alleine gehen lassen, ich mein, da hätt ja sonstwas passieren können, ich hätt umkippen können unterwegs.

Aber ich kam dann mit einem großen Verband um Kopp zurück, und da hat sie immer noch in der Küche gesessen mit verheulten Augen und Kartoffeln geschält.»Allet gaut?«, hat sie mit einer ganz komischen Stimme gefragt.»Wat het sei denn seggt?«

Und ich hab gesagt:»Die hat bloß gefragt: ›Wo is denn deine Mudder?‹ — Aber is kein großes Loch.«

Und dann hat meine Mudder noch mal angefangen zu heulen, und ich hab überhaupt nix mehr kapiert.»Wat is denn los, Mutti?«

Ich war auch wütend. Aber sie tat mir auch leid. Genau wie später. Wie später, als ich dann genau gesehen hab, was mit ihr los ist, als sie angefangen hatte zu saufen, zu saufen genau wie der Olle, wir Kinder haben ihn ja auch bloß noch den» Ollen «genannt, und da ist mir denn auch nix anderes mehr eingefallen, als zu sagen:»Mensch, Mutti, hör uff!«

JOHN

MEINE MAMA IST TOT

ICH KRIEGS NICHT IN MEINEN KOPF

OBWOHL ES SO VIELE JAHRE HER IST

MEINE MAMA IST TOT

ES IST SCHWER ZU ERKLÄREN

SO VIEL SCHMERZ

ICH KONNTE IHN NIEMALS ZEIGEN

MEINE MAMA IST TOT

INGRID

Michael geht dir auf den Geist. Paul geht dir auf den Geist. Was soll diese ganze Fragerei. Stop getting on my nerves. Michael fragt dich Dinge, die er dich vor zwanzig Jahren hätte fragen sollen, er fragt die Leute Dinge, die er besser in Büchern nachlesen kann. Die nicht stattgefundene Lautverschiebung im Niederdeutschen und ihre Auswirkung auf die mentale und soziale Verfasstheit der Sprecher. Eine Studie an Lebendmaterial. Was hat er rumzulaufen und den Leuten auf den Geist zu gehen, was hat er sie zu fragen nach Wörtern, die sie längst vergessen haben. Und du, du treibst zurück in ihre Wortlosigkeit, entfällst allen angelernten Wörtern, knallst hin auf dieser spiegelglatten Stummheit, aber du weinst nicht, Knie, Hände, alles taub. Du rutschst zurück in die Augensprache deiner Kindheit, deiner Jugend, deiner sogenannten Vergangenheit, die nicht vergessen ist und nicht vergeben, aber die fernab von Worten liegt und zu der kein Hohlwort führt. Die Leute umkreisen sie auf Schleichworten, senden pfeilschnelle Blicke, aber sie kommen nicht heran, es ist ein namenloses Land, über das sie sich abends dunkle Geschichten erzählen, das sie in wilden Farben malen und über ihre Kaffeetafel hängen, aber dem, der behauptet, jemals dort gewesen zu sein, wird eifersüchtig das Wort abgeschnitten. Und du kannst darüber nur grimmig lachen, denn du weißt, dass niemand auch nur jemals über die Grenzen deines Landes geblickt hat, dass die Furcht vor der Stille sie allesamt fernhält.

Und es ist endgültig still geworden in Anna Hanskes Haus, aber du könntest nicht sagen, ob es jemals geräuschvoller zuging, ob du als Kind den typischen Kinderlärm, der in alle Ecken eines Hauses purzelt, um dich herum verbreitet hast, ob du wie das oberste Bauklötzchen warst, das den mühsam errichteten krummen Turm stets zum Einsturz brachte. Warst du nicht, sei ehrlich, denn das hätte vielleicht anderes vorausgesetzt. Eine andere Zeit? Ach nein. Das war es nicht. Jüngere Geschwister? Du hättest sie verabscheut. Einen Vater? Kann sein. Eine glückliche Mutter? War sie es nicht? Hat sie nicht immer das gemacht, was ihr gerade gefiel? Oder nur das, was sie für richtig hielt? Und war das nicht das Gleiche, bei ihr?

Du jedenfalls hast dich sofort und entschieden, entschieden auch ohne Wahl, an Peter angeschlossen, schon im Kinderwagen, oh ja, ihr hattet einen, und Peter schob dich durch die Gegend, über die aufgerissenen Wege, du hast selten geweint, nie geschrien, sagte er, er könne sich nicht erinnern, und das Schaukeln des alten Wagens, eine schwankende Höhle aus sich auflösendem Korbgeflecht, muss einen Stoff zwischen euch gewebt haben. Und er ist mit euch mitgewachsen, und ihr habt euch darin eingewickelt, und er war dehnbar. Er war eine Tarnkappe und ein fliegender Teppich, denn an Peters Seite konntest du immer ebenso unsichtbar und auf und davon sein wie er, wie der Junge, den es nicht geben durfte, hier, und den deshalb niemand beachtete, wie Peter Malius aus Köslin, dann Koszalin, Hinterpommern. Der Stotter-Peter. An ihn klammertest du dich in deinen Fluchtträumen als an einen lebenden Beweis, dass es ein Jenseits gab, etwas, das hinausging über deine Schulmilch, die Übelkeit und Ärger verursachende sozialistische Errungenschaft, über deine Stöckchenspiele, die in verbissene, stumme Kämpfe ausarteten, wenn die anderen schließlich die Stöckchen nach dir warfen, über die verspannten Blicke deiner Mutter, sobald sie auf dich fielen, denn Peter kam aus diesem Jenseits. Und du weißt noch, dass du lange Zeit glaubtest, dass er in Wirklichkeit eine andere Sprache spreche, eine, die er hinter seinen zerhackten Wörtern verbarg oder beim Sprechen als Blaupause mitlaufen ließ, und du wolltest Worte dieser Sprache aus ihm herauskitzeln, du betteltest ihn an und warst maßlos enttäuscht, als er ganz ernst zu dir sagte:»W-w-wirklich nicht, Ingrid!«

Du warst vielleicht auch nur darauf gekommen, weil er sowieso viel mehr Wörter kannte als du, ständig las er irgendein Buch, er hatte bald die ganze Dorfbibliothek durch, bis er dann nicht mehr hingehen durfte, weil immer mehr Bücher abhanden gekommen waren, und natürlich war er es gewesen, wer sonst. Wer sonst als Peter Hanske.

Er hatte sie auch tatsächlich alle, die vermissten Bücher, sie schliefen in den Staubflocken unter seinem Bett, und manchmal verirrte sich nachts eine Maus zwischen sie und rieb ihr Fell an den Leinenrücken, ein Geräusch, das du umstandslos wiedererkennen würdest, dazu das zarte Getrippel ihrer rosigen Krallenfüßchen und Rufe, die fast ein Zirpen waren. Sämtliche tote Mäuse, derer du habhaft werden konntest, sammeltest du ein, du zogst sie vorsichtig aus den Fallen und legtest sie vor dich hin, mitunter waren es vier oder fünf auf einmal. Du studiertest sie genau, du konntest halbe Stunden reglos vor ihnen hocken, sie hatten fünf Finger und Zehen wie du. Und obwohl deine Mutter nicht mit dir schimpfte, wenn sie dich bei dieser Andacht überraschte, obwohl sie vielleicht sogar lächelte oder nur sagte,»ach, Ingrid«, und:»Wasch dir nachher die Finger«, war dir ihr Hinzutreten höchst unangenehm, es kam dir wie eine falsche Entschuldigung vor.