Du löstest alle von deiner Mutter in eurem Zimmer aufgestellten Mäusefallen mit Bleistiften aus, die dabei zu deinem Erschrecken oft durchbrachen, was dich jedesmal zu einer Erklärung über einen leider schon wieder abhanden gekommenen, wahrscheinlich in der Schule geklauten Bleistift zwang und einer Bitte um einen neuen. Deine Mutter fragte dich etwas Unbeantwortbares, nämlich, wo du bloß deine Schlusigkeit herhättest, und gab dir einen Bleistift, der noch gar keiner war und erst mittels eines stumpfen Anspitzers mühsam mit einer Spitze versehen werden musste, und der Anspitzer war nicht von ungefähr so stumpf, sondern von den Stöckern, die du ebenfalls damit bearbeitetest, um Pfeile aus ihnen herzustellen, denn Peter hatte dir einen Bogen versprochen, einen extra für Linkshänder. In den folgenden Schuljahren drehtest du den eigentlich schon unbrauchbaren Anspitzer aus alter Anhänglichkeit immer noch zwischen deinen Fingern hin und her und fragtest dich, ob wohl der kleine Finger von Christa in das Loch passen würde.
Was aus den Büchern geworden ist, weißt du nicht, jedenfalls hat die Bibliothek sie wohl nie zurückgekriegt, und sie müssen die Existenz dieser zu gut gemeinten Dorfkultureinrichtung überlebt haben, denn deren Verschwinden hast du noch mitbekommen, es war kurz vor deinem Verschwinden und erschien dir fast wie ein Symboclass="underline" dafür, dass alles Gutgemeinte irgendwann doch nicht mehr gegen die realen Verhältnisse ankann. Und das kam dir richtig vor, traurig und triumphal.
Als Peters Bücher schließlich vermisst wurden, lagen sie bereits so lange unter seinem Bett, dass er sie wirklich schon ganz als seine eigenen betrachtete, und das Verwunderliche, das ihm das Ableugnen jeder Schuld auch so leicht und überzeugend machte, denn sein Stottern lief dabei keineswegs ins Schlimme, Unverständliche, wie sonst, wenn eine Aufregung ihn ergriff, das Verwunderliche und kaum noch mit dorfrechten Dingen Zugehende war nur, dass ihr Fehlen überhaupt bemerkt worden war. Er hatte es geschickt, um nicht zu sagen raffiniert angestellt, was dich damals mit unbändigem Stolz erfüllte: Du bewundertest ihn dafür, dass er nur die Bücher ausgesucht hatte, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemand außer ihm auslieh. An den Schnittkanten mit schwarzen Punkten wie mit Altersflecken übersäte Romane; ein halb zerfallenes Schmetterlingsbestimmungsbuch, in dem dich vor allem die Abbildungen der Raupen in ihren Bann schlugen, solche hattest du hier noch nie gesehen; Liederbücher in Fraktur, deren Noten er auf einer selbstgeschnitzten Flöte zu spielen versuchte, ohne dass er sie lesen konnte, er orientierte sich lediglich an Höhen und Längen und bastelte daraus eine Melodie zurecht, die ihm tauglich erschien. Er brachte dir den Text dazu bei, und du sangst ihn mit deiner kleinen Reibeisenstimme. Manchmal sang Peter auch selber, und die Wörter liefen ihm ohne Stolpern dahin, wurden ein einziges Wort. Dein Kopf war voll von diesen wunderlichen Zeilen, deren Sinn sich dir nur in kleinen Bröckchen erschloss, die du nichtsdestoweniger gierig schlucktest. Vielleicht war das ja Peters Sprache.
Außerdem hatte er die Bücher nicht einfach nicht zurückgegeben. Sondern sie zuerst ausgeliehen und rechtzeitig, oft sogar weit vor Ende der Ausleihfrist, zurückgebracht, um sie dann erst bei einem weiteren Besuch, von der dösenden oder jäckchenstrickenden Bibliothekarin unbemerkt, in seine Tasche gleiten oder aus dem vorsichtig geöffneten Fenster ins weiche Gras fallen zu lassen. Diese Methode schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Er konnte so beim ersten Mal den Inhalt des Buches auf lohnenswert oder nicht prüfen, und später, sollte das Buch tatsächlich vermisst werden, würde der Verdacht nicht auf ihn fallen, denn er hatte es ja zurückgegeben, woran sich Fräulein Kunatsch doch bestimmt noch erinnerte, er hätte doch noch gesagt, wie» l-l-langweilig «er es gefunden hätte.
Wie sie dann trotzdem auf ihn gekommen sind, wer weiß, vielleicht der untrügliche Instinkt der Gemeinschaft gegenüber jedem Element des Fremden, fest stand jedenfalls, dass es niemand anders als Peter Hanske gewesen sei, auch wenn man ihm nichts beweisen konnte, was ihm zusätzlich ungünstig ausgelegt wurde und worauf Peter Hanske auf immer der Dorfbibliothek fernzubleiben hatte. Aber Anna Hanske hatte niemanden in ihr Haus gelassen, Fräulein Kunatsch nicht und nicht Bürgermeister Möllrich, sie kenne schließlich ihr Haus vom Keller bis unters Dach und auch das Zimmer ihres Sohnes, und ein Stapel Bücher wäre ihr da nicht unverborgen geblieben, und niemals hätte sie ihrem Sohn eine solche Tat gegen das Wohl der Gemeinde durchgehen lassen, aber falls etwa Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Worte bestehen sollten, möge man doch bitte die Volkspolizei alarmieren. Das mochte man denn aber doch nicht. Und Anna Hanske sagte zu ihrem Sohn Peter:»Wenn du nich willst, dass ich unter deinem Bett aufräum, dann mach du das und bau dir dafür ein Regal. Und wenn einer kommt und sagt, er will was zum Lesen, und dich nach einem Buch fragt, das dir bekannt vorkommt, weils auf deinem Regal steht, dann hol das da runter und drücks ihm in die Hand und sag nich, wann ers wiederbringen soll.«
Du hast doch viel gelernt damals. Und abends im Dunkeln, wenn ihr im Bett lagt, das Licht schon längst aus war, breitete Peter seine neuesten Schätze vor dir aus, er fragte immer:»K-kennst du d-d-das Wort …«, und dann kam irgendwas, was du noch nie gehört hattest, und er erklärte dir, was es bedeutet, und wenn er sich erst eingeredet hatte, dann war das Stottern auf einmal weg, und manchmal ließ er dich vorher auch raten und hörte deine Mutmaßungen sehr ernsthaft an und lachte nur ein bisschen. Und das vermischte sich mit den Mäusegeräuschen, du lauschtest auf ihr entzücktes Quieksen und wie sie sich die winzigen eingetrockneten Käse- oder Speckstückchen aus den entschärften Fallen holten.
Einmal sagte Peter:»W-w-weißt du, was ›Jenseits‹ ha-ha-heißt?«, und du wusstest es nicht, aber du konntest an seiner Stimme hören, dass es kein neues Wort war, dass es eines war, das er längst kannte und das er sich aufgespart hatte, weil es ein besonderes sein musste.
«Was heißt denn das, Peter?«, hast du geflüstert, automatisch, fast gänsehäutig, denn es schien eins von den Dingen zu sein, die man wissen und nicht wissen will zugleich, oder ganz kurz wissen und wieder vergessen, dieses aber vergaßt du nie mehr.
«Na, z-zum Beispiel könnte ich sagen: m-m-m- m-m-meine M-mutter, du weißt schon, meine rr-richtige, sie ist im Jenseits.«
«Wirklich?«, fragtest du, denn du hattest gedacht, diese wirkliche Mutter sei tot, irgendwie wegen des Krieges, von dem sie dir erzählt hatten, jedenfalls hatten sie dich dann wohl angelogen, wie immer, als sie gesagt hatten, Peters Mutter sei tot.
«Ja«, sagte Peter,»das w-weißt du doch.«
Und du sagtest nichts mehr und nicktest bloß, obwohl Peter das im Dunkeln ja gar nicht sehen konnte. Er sollte ja nun nicht denken, dass du jemals daran geglaubt hattest, was sie dir so erzählt hatten. Peters Mutter war im Jenseits, im Jenseits, das war ja mal eine gute Nachricht. Vor Aufregung und Geheimnisschwere konntest du zuerst gar nicht in den Schlaf finden, seltsam milchige Bilder flimmerten in deinem Kopf. Vergeblich versuchtest du drüberzuwischen, wie über die beschlagenen Küchenfenster, und das war dir Bestätigung genug, dass dahinter mehr zu sehen sein müsste als euer Hof und das hellgraue Stückchen Dorfstraße und der abgebrannte schwarze Dachstuhl der Schnitterkaserne neben dem Friedhof, und immerzu dachtest du nur: da würdest du hinfahren, irgendwann, bald.