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Und du seufztest, weil du ahntest, dass es für dich noch lange dauern würde, bis man dich dorthin ließe, so lang wie die Schule mindestens, und du hattest kaum angefangen, und vielleicht würdest du ausreißen müssen, wovon du keine andere Vorstellung hattest als das Beispiel des armen Georg, und den hatten sie nach fünf Tagen» fast ganz nackig «und an einen Baum gebunden im Wald gefunden, und dabei war er schon vierzehn Jahre. Und sein Fahrrad war weg und sein Tornister und seine Jacke und seine Hose, und das hatten die Soldaten mitgenommen, die er nicht verstanden hatte, weil sie russisch gesprochen hatten, aber das durfte man nicht sagen, aber auch ›Sowjetmenschen‹ durfte man in diesem Fall nicht sagen, denn in Wirklichkeit waren es ja» verbrecherisch als Soldaten der Roten Armee verkleidete «ganz normale» asoziale Elemente «gewesen.

«D-das heißt ›Räuber‹«, hatte Peter zu dir gesagt und dabei gegrinst, aber du wusstest nicht, was es dabei zu grinsen gab. Georg musste dann nicht zurück zu seinem Prügel-Onkel, er musste dann in ein Kinderheim. Und danach sagten sie, dass sowieso alle Kinder, die ausreißen, ins Heim gesteckt werden, ob Prügel-Onkel oder nicht.

Doch vielleicht dürfte Peter eher dorthin, nach Jenseits, zweifellos hatte ihn seine Mutter nur nicht mitgenommen, weil er noch nicht alt genug dafür war, aber er war immerhin neun Jahre älter als du, und er würde dich vielleicht mitnehmen, er würde dich doch nicht alleine hier lassen, nicht Peter. Oder war es am Ende genauso unwahrscheinlich und geradezu entsetzlich unmöglich, dass Peter zu seiner Mutter fuhr, wie dass man dich zu deinem Vater reisen ließe?

«Das schlag dir man ausm Kopf«, hatte deine Mutter gesagt und mehr nicht. Und etwas in der Art, wie sie sich von dir wegdrehte, wie sie hastig den Deckel vom Kochtopf nahm, ihn scheppernd danebenwarf und sich auf die heißen Finger pustete, wie sie die Kelle schnappte und den Wrukeneintopf durchwühlte, hielt dich davon ab, auch nur eine weitere Frage zu stellen, schon gar keine mit ›warum‹. Das hattest du dir sowieso bald abgewöhnt, zumindest bei deiner Mutter, und zwar gerade weil sie dir jedesmal Antworten darauf gab. Sie sagte:»Was soll ich dir was vorschwindeln«, und dann kam eine lange komplizierte Antwort, und du glaubtest, du müsstest immer so tun, als ob du alles verstündest. Sie prüfte dich aber nie. Oder sie sagte gleich, dass sie das auch nicht wüsste, was aber so selten vorkam, dass du fast darauf zu hoffen begannst. Es war eine Abkürzung, auch eine zu deiner Mutter, sie zog dich damit an sich heran, oder war es umgekehrt, sie wusste es also auch nicht. Sie wusste es also auch nicht, warum dein Vater im Westen war und was er dort so machte. Aber sie sagte dir, dass das kein Anlass sei, herumzulaufen und damit anzugeben, worauf du natürlich auch nie gekommen wärst. Ihr kämt ja auch ganz gut ohne ihn aus. Du konntest dir ohnehin nicht vorstellen, wie ein Noch-besser-Auskommen hätte aussehen sollen, du wusstest, dass ihr besser dran wart als die meisten im Dorf, sonst würden sie dich ja nicht ständig ärgern, denn die waren ja bloß neidisch. Aber du warst nicht neidisch, schon gar nicht auf ihre Väter, du hattest ja auch einen, und zwar im Westen, und er konnte dir gar nichts, er konnte dich nicht zum Kartoffelstoppeln schicken oder nach Karnickelfutter, und deine Mutter sagte, ihr hättet selber genug Kartoffeln, und ihr hattet keine Karnickel,»wer soll die denn schlachten«.

Nur dass man ihn nicht mal besuchen konnte.»Das soll man nich«, sagte deine Mutter,»das soll man nich, weil die Deutsche Demokratische Republik Angst hat. Nämlich Angst um ihre Bürger, aber die heißen jetzt glaub ich auch anders, dass nämlich ihren armen Bürgern im Westen was passiert, denn das ist ja gefährlich, so alleine in der Weltgeschichte rumzuspaziern, und dann verlaufen die sich da vielleicht, weil die sich ja da nich auskennen, und da steht auch kein Schild, wo sie langmüssen, und dann kommen sie nich mehr wieder. Und dann wär sie traurig, unsere Republik. So wie Georgs Onkel, davon hast du doch gehört, wie der traurig war, als Georg ausgerissen ist. «Du hattest aber bloß gehört, dass Georgs Onkel gesagt hatte:»Dän Mistbengel, den schloog’k dot, wenn dei mi noch eis unner de Ogen kümmt!«, aber dann hatten sie ihn ja ins Heim gesteckt.

Am nächsten Morgen fragtest du Peter, ob Jenseits so etwas Ähnliches sei wie der Westen. Peter lachte auf und sagte:»Tja, k-k-kann man wohl so sagen. J-jedenfalls weiß k-keiner was G-genaues drüber. «Das kam dir auch so vor.

Wo Peters Vater war, wusste auch keiner.»Vielleicht hast du gar keinen«, sagtest du zu ihm, und weil er dich dann so anguckte, versuchtest du es mit deinem Trost, der eigentlich nur für dich war und dich zu der Zeit wie ein kleiner fester Panzer umgab:»Macht doch nix!«Machte doch nix, als du auf die Betonplatte fielst und dir das Knie aufschlugst, machte doch nix, dass Klaus Börner dich hingeschubst hatte, machte doch nix, dass deine Mutter dich rausgescheucht hatte, nachdem du den ganzen Vormittag in deinem Zimmer eingeschlossen gewesen warst und es doch nicht aufgeräumt hattest. War doch alles nicht so schlimm, Peter. Aber Peter belehrte dich gleich, dass jeder einen Vater habe, auch wenn er ihn nie zu Gesicht bekomme, das stünde nun mal fest. Fest stünde aber auch, dass sein Vater» g-garantiert nicht «im Westen wäre, er hätte es ja nicht mal bis hierher mit seiner Mutter und ihm geschafft, also wäre er höchstens ganz im Osten, wahrscheinlich aber wirklich tot. Zumindest hoffe er das, ja genau. Als Peters Blick in deine weiten Augen fiel, sagte er:»Oder w-willst du etwa, dass hier e-e-irgendwann a-a-einer ankommt und sagt, er ist mein V-vater und will mich m-m-mitnehmen?«

Und dein Pferdeschwanz sauste wie eine Peitsche ganz schnell zwischen deinen Ohren hin und her, und dein» Nein-nein «und die Tränen flogen um dich herum.

Zum ersten Mal empfandest du so etwas wie Dankbarkeit gegenüber deiner Mutter. Jedenfalls war es eine ihrer guten Ideen gewesen, Peter einfach zu behalten. Du wusstest zwar nicht, was sie bewogen hatte, dann auch noch dich zu kriegen, aber vielleicht fasstest du die Sache falsch auf. Vielleicht hatte gar nicht sie ausgerechnet dich gewollt, sondern mehr etwas für Peter, und nun war sie enttäuscht, weil es andersherum gekommen war, weil du Peter bekommen hattest. Das konnte sie nun natürlich schlecht zugeben, weil du ja ihr richtiges Kind warst, aber hintenrum versuchte sie anscheinend, es wieder gutzumachen, und schenkte Peter einen Tuschkasten mit zwölf Farben und sagte zu dir:»Du bist doch noch zu lütt dazu, nich«, und holte einen Drops für dich aus ihrer Schürzentasche und merkte gar nicht, dass du nicht danke sagtest. Oder? Das hätte doch immerhin sein können.

Stop it. Was kramst du denn hier herum wie in einer plötzlich entdeckten Truhe, von deren Existenz du ja gar nichts ahntest, welch Überraschung. Blödsinn. Die echte Truhe aus Kirschholz, wurmstichig, fandest du an ihrem alten Platz unter der Treppe, und außer ein paar leeren Keksdosen und einem Kinderfotoapparat war nichts darin. Anna Hanske hielt nichts vom Aufheben, hielt nichts vom Horten nicht mehr oder noch nicht benutzter Dinge für spätere, schlechtere Zeiten. Sie hing diesem Aberglauben nicht an. Was sie nicht sofort gebrauchen konnte, kam weg, wurde verschenkt, und die Leute nahmen gerne und sagten,»na, dei hemm’s joo!«.

Und so stießest du in der Truhe nicht auf abgelegte Kleider, Fotoalben, Spielsachen, Teekessel. Weißwäsche für deine Aussteuer. Daran hatte sie wohl auch nicht geglaubt, sie hatte auch keinen Grund dazu gehabt. Die Truhe enthielt keinen Hinweis auf Peter und keinen Hinweis auf dich, ihre Übersichtlichkeit erleichterte dich; kein Hinweis auf die Zeiten, in denen der dunkle hölzerne Leib dich verborgen gehalten hatte und die Rufe Peters oder deiner Mutter nur gedämpft zu dir gedrungen waren, keine Spur deines heißen Atems, deiner schwitzigen Finger und der aufregenden Vorstellung, dass du diesmal den schweren Deckel vielleicht nicht mehr aufbekämst.