Und auch von dem, was du damals zurückgelassen hast, ist alles verschwunden. Tatsächlich, alles. Und das wusstest du vorher, denn sonst wärst du nicht hierher gekommen, nicht wahr. Denn tatsächlich hast du alles damals zurückgelassen, nicht wahr, das war es doch, was du dir sagtest, dass du alles zurücklassen müsstest, nicht wahr, und du sagtest dir, dass du es deiner Mutter dalassen würdest, denn besser bei ihr als bei dir, nicht wahr, und besser das als du. Nicht wahr, gar nicht wahr, denkst du, nein. Und doch geschah alles nach deinem Willen, aber geschehen konnte es doch nur mit ihrer Hilfe. Und du merktest das nicht mal, noch nicht mal, als du jenseits der Grenze warst und ihr Satz in deinem Kopf zitterte:»Das Beste ist nich immer das Bequemste.«
Und von da an hast du ihn dir immer wieder vorgesagt, so oft, dass er fast zu deinem eigenen Satz wurde, und du hast gar nicht gemerkt, wie er sich mit den Jahren langsam umgedreht hat, bis du dich nicht mehr weiter an seinem Schwanzende festklammern konntest, bis er dir sein Maul mit den Reihen kleiner spitziger Zähne gezeigt hat und du ihn endlich richtig herum zu lesen glaubtest.»Das Bequemste …«Aber es stimmte doch nicht. Du kannst ihn jetzt zurückhaben, deinen Satz, Anna Hanske, denn er stimmt hinten und vorne nicht. Aber sollte mich wundern, wenn du das nicht gewusst hättest.
Der kleine Fotoapparat war nicht deiner gewesen, schon gar nicht Peters, so was gab es doch damals noch gar nicht, so ein Ding mit gelber Plastikverblendung, für Kassettenfilme, und heute nicht mehr. Es lag kein Film darin, nur die leere Kassette, zum Glück. Ein nutzloses, putziges Objekt, das du beinah zwischen deinen Händen verschwinden lassen kannst, wie in einem rückwärts ablaufenden Film, eine harte gelbe Nuss, die nach und nach die Bruchstücke ihrer Schale wieder umschließen. Dann hältst du ihn vor deinen Bauch und drückst auf den Auslöser, wieder und wieder und immer rascher, dazwischen drehst du das Rädchen für den Filmtransport weiter, immer weiter, klick und ratsch und klick und ratsch, es stellt sich ein Rhythmus ein, der dir fast Spaß macht, dreißig Aufnahmen der dunklen Dielen, die vielleicht etwas über das unmerkliche Vergehen der Zeit aussagen könnten. Das Nichtvergehen.
«What’s that?«, fragt Paul, und du zeigst ihm dein nasses Gesicht und sagst:»Nothing.«
Beim Abendbrot sagst du nichts. Dir rutscht das Glas aus der Hand, du hebst es nicht auf, die Tischdecke sieht aus wie ein vollgepinkeltes Laken, Michael und Paul sehen dich an.
«Stop getting on my mind, my alarm clock, my cookie, my balls!«Michael und Paul sehen dich an.
JOHN
MUTTER DU HATTEST MICH ABER ICH HATTE NIEMALS DICH
ICH WOLLTE DICH ABER DU WOLLTEST MICH NICHT
ALSO MUSS ICH DIR SAGEN
LEB WOHL LEB WOHL
VATER DU VERLIESST MICH ABER ICH VERLIESS NIEMALS DICH
ICH BRAUCHTE DICH ABER DU BRAUCHTEST MICH NICHT
ALSO MUSS ICH DIR SAGEN
LEB WOHL LEB WOHL
KINDER MACHT NICHT WAS ICH GEMACHT HABE
ICH KONNTE NICHT GEHEN UND ICH VERSUCHTE ZU LAUFEN
ALSO MUSS ICH EUCH SAGEN
LEBT WOHL LEBT WOHL
MAMA GEH NICHT
PAPA KOMM NACH HAUSE
ELLA
«Das ist bestimmt deine Freundin«, sagt Paul, er hat das Klopfen auch gehört.
«Sie ist nicht meine Freundin!«Ist mir jetzt wieder so rausgerutscht.
Paul grinst.»Aber bald.«
Was soll das denn heißen? Ist er Hellseher oder was. Ganz geheuer ist er mir sowieso nicht, da war die Idee, Romy anzurufen, gar nicht mal so übel.
Sie ist das übrigens wirklich. Wieso klingelt die nicht wie jeder normale Mensch. Braucht wieder mal ne Extrawurst. Ich mach die Tür auf, und Romy lächelt, als wenn sie sich nun gleich entschuldigen will. Ich muss auch lächeln auf einmal, und Paul guckt mit genausonem Lächeln erst Romy an und dann mich und dann wieder Romy.
«Komm rein«, sage ich schlussendlich, damit hier heut noch was passiert. Aber kaum hab ich die Tür zu, bleibt die schon wieder stehen, die Jacke halb an, halb aus, und starrt die alten Platten an.
Vati hat die vorhin auf den Flur gestellt, für den An- und Verkauf. Seit sie sowieso alles auf CD hätten und der Plattenspieler ja nun endgültig übern Jordan wär, na ja. Was sich fast so anhörte, als wenn er froh dadrüber wär, als wenn er nun endlich einen Grund hat, und ich hatte ziemlich Lust, ihm das ins Gesicht zu sagen. Wie beknackt ich das finde, und dass ichs schon immer beknackt gefunden hab, und dass er nun sieht, was er davon hat, dass er nun nämlich dasitzt mit dem ganzen Krempel und nicht weiß, wohin damit. Das mit dem An-und-Ver passt ihm ja in Wirklichkeit auch nicht, weiß ich genau, und bloß weil Mutti das gesagt hat und ihm nix Bessres eingefallen ist.
Aber den Mund aufgemacht hab ich natürlich doch nicht, muss ja nicht sein, der wär doch gleich wieder auf Hundertachtzig gewesen. Ich hab mir nur innerlich eins gegrinst, jedenfalls so lange, bis er mich gefragt hat, ob ich etwa eine Platte zur Erinnerung behalten will, an die guten alten Zeiten, und dann hat er gegrinst. Damit ich später noch weiß, dass es so was auch mal gegeben hat, weil wir, also ich und seine Schüler und die ganze blöde Jugend von heute, solche Sachen ja viel zu schnell vergessen, und so weiter. Die Oberlehrer-Tour.»Keine Angst, ich vergess das schon nich«, hab ich gesagt. Wie denn auch, hab ich gedacht.
Jetzt bückt Romy sich und zieht eine Platte raus. Und sagt:»Wow!«
Ich glaub, mir wird gleich schlecht. Von ihr hätte ich das nun echt nicht gedacht. Dass die solche Wörter benutzt, solche von der ›cool‹- und ›sorry‹-Sorte. Ich dachte, na ja, ich weiß auch nicht. War vielleicht doch keine so gute Idee. Sie glotzt auf die Platte und ihr Gesicht ist die helle Begeisterung.»Das ist ja das WHITE ALBUM!«
«Ja«, sag ich bloß und hoffe, dass sie jetzt nicht auch noch ›cool!‹ sagt. Das WHITE ALBUM, na und! Ich wünschte, wir würden uns langsam mal in mein Zimmer bewegen, ich hab schließlich nicht extra aufgeräumt, damit wir hier auf den kalten Fliesen von einem Bein aufs andre treten und den alten Mist angucken. Aber da sagt Paul, und seine Augen fangen an, so ähnlich wie die von Romy zu glänzen, was zwar jetzt kitschig klingt, aber wie soll man das sonst nennen, und ich kenn dieses Glänzen, es ist gefährlich, Paul sagt:»Du magst die Beatles?«
Da ist es, dieses Wort, vor dem ich Schiss hatte. Aber ließ sich wohl nicht vermeiden, schon als Romy so auf die Kiste geguckt hat, hab ichs geahnt, dieser alberne Name, was soll das überhaupt bedeuten? DieBeatlesdieBeatlesdieBeatles. Das wollt ich doch nie mehr hören. Ich hätte das Zeug eigenhändig auf dem Flohmarkt verkauft dafür, verscherbelt hätt ichs, je seltener, desto billiger. Ich hätte Mutti und Vati zwingen sollen, das nur noch über Kopfhörer zu hören, ich hätte sagen können, Oma verträgt das nicht, ich muss noch was für die Schule lernen. Zum Glück kommen sie ja selber kaum noch auf die Idee, überhaupt irgendwas anzuhören. Jetzt heißt es nur immer,»Ella, mach diesen Mist leiser, das hält ja kein Mensch aus!«Wie oft hab ich mir gewünscht, ich hätte das einmal, nur einmal zu ihnen gesagt. Hätt ich ne Backpfeife für gefangen, mindestens, egal. Aber unsereins hat immer bloß gekuscht, sogar Thorsten. Na ja, nicht immer, hätte sonst wohl kaum so viel Katzenköppe und Stubenarrest und Ohne-Abendbrot-ins-Bett gegeben. Die halten nix von antiautoritär oder wie das heißt. Aber all die Jahre ALL YOU NEED IS LOVE!
Und dann das vorhin schon wieder, immer dieses Misstrauen. Dass ihre Tochter Elisabeth was anstellen könnte, was ausfressen, und wat solln denn bloß die Leute sagen! Dann würds ja gleich wieder heißen, siehste, Lehrerkinder sind auch nicht besser, im Gegenteil, die sind schlimmer als alle andern. Sind sie ja auch, schlimmer dran nämlich.