Ansonsten wahrscheinlich Schwarzmarkt. Aber die mögen da bis heute nicht drüber reden, zumindest nicht mit mir,»das is ja nu vorbei, Gott sei Dank«, sagen die maximal dazu, als wenn die Schiss haben, dass da jetzt noch einer kommen und sie irgendwie dafür belangen könnte, oder als wenn ich das nun immer noch rumerzählen könnte,»aus purer Missgunst«! Sieht ja jetzt fast so aus, als ob sie Beweisstücke aus dem Haus schaffen. Ich versteh das nicht. Ich mein, wozu denn erst der ganze Aufwand. Und ein Akt war das immer, wenn Vati wieder mal sonnabends nachmittags noch nach der Schule nach Berlin gefahren ist, was man denn auch wieder keinem erzählen durfte. Und dann kam er mitten in der Nacht zurück, ich konnte nie einschlafen, bis er nicht zurück war, obwohl er ja doch nie was andres mitgebracht hat als eben irgendeine neue Beatles-Platte, und manchmal nicht mal das. Die haben sie dann immer gleich noch nachts gehört, und ich hab das auch gehört, und auch, was sie da nebenbei gemacht haben, und morgens gabs Frühstückseier und Kuchen und die Beatles und ich hab auf mein Ei und meinen Kuchen geheult, vor Wut, weil ich mir nun für die nächste Zeit sämtliche Wünsche, die ich so hatte, gleich» abschminken «konnte.
Für was andres hatten die nie Geld übrig. Die andern kriegten ein Monchichi aus dem Intershop, und Sarotti-Schokolade, bei uns gabs zu Weihnachten Unterwäsche, Garnituren.»Na, gefällt dir die neue Garnitur?«Ich krieg Ausschlag bei dem Wort! Und Strumpfhosen! Und die Beatles, sogar unterm Tannenbaum. Ich wollte WEIHNACHTEN IN FAMILIE von Frank Schöbel, den mochte ich. Aber das war nur für die andern, für uns gabs was Besondres, das hat nicht jeder, yeah, yeah, yeah. Mutti hat versucht, mit mir zu tanzen danach. Ich bin weggerannt. Dieses Glänzen auf ihrem Gesicht, und wie sie Vati dann angeguckt hat. Ich hab mich geekelt vor diesen Typen, vor ihren doofen Frisuren. Mir war das irgendwie peinlich, ich hab mich richtig geschämt. Für Mutti und Vati, aber eigentlich noch mehr für mich selber, ich hab gedacht, wie bekloppt muss man sein, um so bekloppte Eltern zu haben, oder so ähnlich. Manchmal hab ich ja gedacht, das sind gar nicht meine Eltern, und das war sogar noch, bevor Vati das damals zu Mutti gesagt hat, und da hab ich noch gedacht, sie haben mich aus irgendeinem Heim geholt, und Thorsten erst recht.
Ich wusste nie die Titel der Songs, ich war die ganze Zeit bloß damit beschäftigt, ihre klebrigen Melodien aus dem Kopf zu kriegen, diese Texte, die ich auswendig konnte, bevor ich sie überhaupt kapiert hab, da wars dann eh schon zu spät. Ich versuch ja immer noch, morgens aufzuwachen und sie nicht singen zu hören in meinem Kopf, die haben ihre verdammte Band da reingebeamt oder was weiß ich.
PASTOR WIETMANN
Da habe ich mich also entschieden, den Vorstellungen der Leute vom Leben eines Pastors doch noch Genüge zu tun. Allzu leicht aber wollten sie es mir nicht machen und haben mir Steine aufgehäuft auf dem Wege der Rechtschaffenheit, der erste Stein aber heißt Misstrauen, denn sie trauen dem Worte Gottes nicht aus dem Munde eines städtischen Studierten, der zweite Stein aber heißt Missgunst, denn sie vergönnen dem Pfarrer nicht das Pfarrhaus, alldieweil es schon anderweitig behaust ist, der dritte Stein schließlich heißt Missbilligung, denn sie billigen nicht die Wandelhaftigkeit ihres Hirten, der zunächst Mutter und Vater verließ, um einem Hirtenweibe anzuhangen, und dann das Hirtenweib verließ, um seine Schafe alleine zu weiden, so dass man der Vermutung anheimfallen könnte, dass auch seine Schafe einst eine verlassene Herde sein würden.
Über diese Steine aber setze ich mit Gelenkigkeit meine Beine, und wenn sie zuerst auch nur aus Neugier mir Gehör zu schenken begannen, so hörten sie doch, und wenn die Wohnung, die sie mir gaben, auch nur ein zweizimmriges Gehäuse ist, so ist es doch genug und leicht zu reinigen, und wenn sie auch ihre Münder kräuseln und Mutmaßungen vielfältigen Ausdruck verleihen und der Gedanke an des Pastors mögliche, immerhin mögliche Verkehrtheit, die eine geschlechtliche sein könnte, sie um ihre Seelenruhe bringt, so wissen sie damit doch nicht mehr über mich, als die Gemeinde von ihrem Pastor wissen soll, und wissen damit nichts über mich und nichts über Kathrin und nichts über Elena.
Und so sitze ich hier in meiner nur durch ein Uhrticken getakteten Stubenstille bei dünnem Kaffee und einem selbstgezogenen Rübengemüse und warte demütig auf die Eingebungen des Geistes für die Niederschrift der Predigt, welche erbaulich zu hören sein soll am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis. Und auch etliche Gedanken zur Vorbereitung des Erntedankfestes sind schon in meinem Kopfe hin und her gegangen. Und Herr Seelsorger Arndt musste gar wohlgefällig nicken dazu.
So hatte sich also damals Bernhard Wietmann, zwanzig Jahre, entschlossen, einer von den Guten zu werden, und dies unterschrieben mit seinem Namen auf dem Antrag auf Immatrikulation für die Theologie, evangelische, anno neunzehnhundertundsiebzig zu Greifswald. Und das Gute und der Mut gingen zu jenen Zeiten noch Hand in Hand, aber das Gute durfte das Gute nicht sein, denn das war einer anderen Sache Prädikat nun, und das alte Gute war nur noch ein Aberglauben, und der Mut ward eine Gutmütigkeit bei den einen, und bei den anderen ein Übermut. B. Wietmann, Erstsemester, aber war guten Mutes. Und täglich prüfte er sich, ob er das Gute auch könne und wolle und solle.
Wie aber war es bestellt um den kategorischen Imperativ? Nun wohl nicht gar so burgenfest, als dass er bis zu seiner Vikarszeit es einmal gewagt hätte, in sich zu horchen, ob er es denn auch zur Ausführung bringe, das Gute, da aber konnte er es mit einem Ja beantworten. Denn war es nicht recht und gut, dass er Kathrin gewonnen hatte, und nicht nur ihr Herz für sich allein, sondern auch für die gute Sache, die gute alte, und abgezogen von der schimpflichen neuen, die Sozialismus geheißen ward und sich trefflich vergleichen ließ mit dem MEHRZWECKGELÄNDE, an dem ihn in zartem Alter so oft sein Weg vorbeigeführt hatte und das, bei genauerer Betrachtung, gar keinem offenen Gelände ähnlich war, sondern einer lose und windschief überdachten Halle, was indes keine weiter überraschende Enttäuschung darbot, nachdem man ihm schon den Gedanken abspenstig gemacht hatte, es ließe sich darauf der März wecken, und auch diente es gar nicht mehreren Zwecken, sondern nur einem. Denn sorgsam und demütig hatte er seine Rollschuhe wieder verpacken und einen stillen Rückzug antreten müssen, als die Vertreter beider Mannschaften eines Handballspieles sich als rauh und absolutistisch erwiesen hatten und dies auch fürderhin blieben und er sonach nimmermehr das Rollschuhlaufen erlernte.
Erlernt aber habe ich den Zweifel, und zwar als eine seltene und selten verlangte Fähigkeit, und sie erschien mir unnütz und bewahrenswert zu gleichen Teilen, wie ein altes Handwerk. Und wie auch die alten Handwerke als dem Fortschritte der menschlichen Gesellschaft entgegenstehend angesehen waren, so war auch der Zweifel ein Rückstand, den es, wo nicht zu entfernen, zu verdrängen galt. Und wir wurden gelehrt, Gebete zu widmen denen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden, und ich fühlte mich eingeschlossen in die Gebete, denn dies, der Zweifel, war mein Glauben. Und etliche Jahre darauf erst wagte ich, meinem Verfolger ins Angesicht zu blicken, und siehe, es war kein anderer als der Zweifel. Seit dieser Zeit aber legt er täglich Fragen mir vor, wie Felsen gewaltige, geringe wie Sandkörnchen, und sie alle gehen auf den Reim, was es denn wohl auf sich habe mit dem Guten im Menschen. Und zum Exempel bin ich geneigt, allemal mich selbst zu wählen, denn das Wort: RICHTET NICHT, AUF DASS IHR NICHT GERICHTET WERDET war mir das Schwerste stets, und so nahm ich zur Sühne meiner Schwäche mich selbst zum Ankläger sowohl wie auch Angeklagten. Und im gewichtigen Buche des Zweifels, den ich gleichwohl nicht Gewissen zu nennen pflege, denn ebendieses setzte wohl die Anwesenheit des guten Kernes in der menschlichen Schale voraus, die ob der Zähigkeit und Faserigkeit selbiger einstweilen noch ungewiss bleiben muss, in diesem Buche also finde ich, sooft ich es aufschlage in meinem Geiste, die verblichenen, zu Teilen unleserlichen, zu Teilen noch gut zu gewahrenden Fragen meiner längst vergangenen Erdentage, als auch ebenso die mit schwarzer Tinte spitzig gestochenen meiner jüngst hinter mir gelassenen.