Da sage noch einer, interdisziplinäres Lernen fände an der Schule nicht statt. Ich nahm es als anschauliches Beispiel für das, was uns in Biologie als Evolution nahegebracht worden war. Damit war Herrn Stiehls Unterricht eigentlich dem Untergang geweiht. Aber auch er entschied sich, wahrscheinlich instinktiv, für eine Anpassung an die neuen Umstände und unterbreitete uns zum Ende der Zehnten, dass die letzte Singekontrolle zugunsten eines Vortrags mit selbst zu wählendem Thema wegfallen würde. Wahrscheinlich glaubte er sogar, damit einige wankelmütige Seelen in seinen Kurs für die Elfte und Zwölfte hinüberretten zu können. Mehr Willensfreiheit, weniger Prädestination. Ich habe Musik abgewählt. Ich will nicht behaupten, dass es mit diesem Vortrag zusammenhing, ich hatte mich sowieso schon für Kunst entschieden. Das ist nicht so von vornherein zum Scheitern verurteilt, da kann man immer irgendwas zusammenschmieren und es dann als originell beurteilen lassen. Das haben sich die meisten Jungs übrigens auch gedacht. Womit ich natürlich nicht sagen will, dass ich irgendwas zusammenschmiere.
Jedenfalls, Herr Stiehl postulierte, er wolle uns alle Freiheiten lassen, als Übung für selbständiges Arbeiten in Vorbereitung auf die Abiturstufe und blabla, als großes Thema gebe er lediglich vor:»Revolutionen in der Musik«. Wenn überhaupt an irgendwas, dachten wahrscheinlich alle zuerst an die Französische Revolution und so was wie: nicht schon wieder! Aber dann dämmerte uns, dass es vielleicht mehr um musikalische Revolutionen ging, Herr Stiehl in seltener Verschlagenheit enthielt sich jeglichen Kommentars. Ich hatte keine Ahnung von Musikgeschichte, was hauptsächlich daran lag, dass es das erste Mal in all den Jahren nicht enden wollender Musikstunden war, dass die überhaupt» aufs Trapez «kam, wie Mama manchmal sagt. Sie lächelt dann, weil sie ja weiß, dass es nicht so heißt, aber nicht genau, wie es denn heißt. Zuerst wusste ich es auch nicht, dann wusste ich es irgendwann und hab sie berichtigt, sie hat es sich aber nicht gemerkt, dann habe ich gemerkt, dass sie das offenbar auch gar nicht will, dann habe ich aufgehört, sie zu verbessern, zuerst aus Trotz und so einem Na-ich-weiß-jedenfalls-wie-es-richtig-heißt-Überlegenheitsgefühl, inzwischen aber auch, weil ich es eigentlich ganz gerne höre, wenn sie es sagt. Ich glaube, das ist der einzige Fall. In dem die Toleranz über das Verlangen siegt, die hochgekrempelten Zehnägel mit Gegengewalt wieder geradezubiegen. Zum Beispiel Tante Elke und Tante Marlies mit ihrer Mir-und-mich-Verwechselkrankheit. Die verwenden Dativ und Akkusativ im Prinzip synonym, jedenfalls ist es mir noch nicht gelungen, da irgendeine Regel abzuleiten, außer der, dass sie es regelmäßig falsch machen. Ich kann nicht anders, als sie ständig zu verbessern. Sie lachen, rollen mit den Augen, winken ab.»Ach, Romy, du schon wieder!«Die Nachsicht, die ich ihnen nicht gönne, lassen sie mir angedeihen. Ich weiß, dass ich furchtbar bin. Aber es ist fast schon ein Spiel. Wenn sie anrufen und ich ausnahmsweise doch mal ans Telefon gehe, wenn Mama nicht da ist, sagen sie zum Schluss etwas, das ungefähr die gleiche Funktion hat wie ›Amen‹:»Denn grüß ihr ma schön!«Das ist zwischen uns zum Zitat geworden. Ich sage zu Mama:»›Grüß-ihr-ma-schön‹ hat angerufen«, und sie fragt dann höchstens noch:»Welche?«
Also, die Musikgeschichte, damit wars nicht weit her, das Einzige, was ich zum Beispiel von einem wie Beethoven wusste, war, dass er taub gewesen war, was mir zugleich auch als das Interessanteste erschien. Das ist sowieso so ein Ding bei mir, dass ich mir mit Vorliebe, geradezu automatisch, die nutzlosen Details merke, während das große Ganze, die Sachen, die in Klausuren abgefragt werden, mich eher langweilt. Wahrscheinlich hat mich das auch zu meinem Vortragsthema verleitet, in Kombination mit meiner maßlosen Arroganz, denn das ist es doch, was sie von mir denken, nicht zuletzt meine eigene Mutter: dass ich arrogant bin. Wie das mit meiner ebenso allgemein bekannten Schüchternheit zusammenpassen soll, haben sie sich dabei offenbar noch nicht überlegt.
Aber ich. Ich glaube, dass Ersteres eine natürliche Folge von Letzterem ist, eine Schutzmaßnahme. Man nehme nur einmal John Lennon. Er galt Zeit seines Lebens als schrecklicher Arrogantling. Von sich selbst sagte er, er sei lediglich schrecklich schüchtern. Natürlich hat auch die Schüchternheit zu meiner Vortragswahl beigetragen. Für einen kurzen Augenblick hatte ich an die Beatles gedacht, ungefähr im selben Augenblick aber auch: Das geht nicht. Wieso, warum, keine Ahnung, nur dieses Gefühl, das geht nicht, was mir heute zugegebenermaßen lächerlich vorkommt. Manchmal frage ich mich, ob das das ganze Leben so gehen solclass="underline" dass alles, was man macht, einem nach spätestens drei Monaten oder so lächerlich vorkommt. Ich habe das jedenfalls ständig, meine Tagebücher — wie das allein schon klingt! à la die Memoiren einer Siebzehnjährigen, völlig lächerlich — sind ein lückenloser Beweis dafür. Trotzdem lese ich gerne darin, sie geben mir ein Gefühl von, na ja, Überwindung. Oft muss ich lachen.
Die Beatles gingen also nicht, das stand fest, irgendetwas daran war mir wieder mal peinlich. Jedenfalls konnte ich mir keinen denken, der diese gerade erst beginnende Leidenschaft, deren Ursprung mir merkwürdig unklar ist, ich weiß nur, dass ich irgendwann eine uralte Kassette mit Beatles-Hits aus der Stadtbibliothek ausgeliehen und zu Hause sorgfältig vor meinen Eltern versteckt hatte, mit mir teilen oder auch nur nachvollziehen könnte. Das war ungefähr so wie eine heimliche Verliebtheit, und wenn ich auf irgendeinem Gebiet überhaupt Erfahrungen vorweisen kann, dann auf diesem.
Ich kenne alle Zustände heimlicher, einseitiger und gemeinhin unglücklich genannter Verliebtheit, und weiß daher auch, dass sie eben nicht unglücklich macht, jedenfalls nicht die ganze Zeit. Sondern nur zu schätzungsweise fünfundzwanzig Prozent. Wenn man bedenkt, wie viele Leute mit sogenannten glücklichen, gegenseitigen und öffentlichen Verliebtheiten unglücklich werden, ist das eine vertretbare Lebensform, denke ich. Zumindest vorübergehend. Und irgendwie geht es ja immer vorüber. Zurzeit ist es Tobias Schneider, er ist ein Jahr älter als ich, und ich glaube, es liegt in den letzten Zügen. Seit er im Sommer sein Abi gemacht hat, sehe ich ihn kaum noch, und das ist ein Problem. Denn auf das Sehen kommt es an. Und auf das Grüßen, oh Gott, was für ein ewiges kitzliges Martyrium! Wir kennen uns flüchtig, von irgendwelchen Junge-Gemeinde-Nachmittagen und Projektwochen her, und haben insgesamt vielleicht drei unvollständige Sätze miteinander gewechselt, und manchmal, wenn wir uns mehr oder weniger zufällig trafen, eher weniger, denn im Laufe der Zeit hatte ich, was Schulweg und Schulgebäude betrifft, einen raffinierten Laufwegeplan entwickelt, der auf wochenlanger Beobachtung all seiner beobachtbaren Bewegungen beruhte, grüßte er mich manchmal und manchmal nicht. Wie ein schöner oder schlechter Traum hatte das Einfluss auf den ganzen restlichen Tag, natürlich auch die Tatsache, ihn gar nicht zu sehen, so dass ich behaupten konnte, eigentlich die ganze Zeit unter Tobias-Einfluss zu stehen, was in mir eine Art von Gefühlen auslöste, die andere Leute vielleicht für ihre Heimat aufbringen. Es beruhigte mich. Zumindest war das bis vor kurzem noch so, jetzt hab ich gerade so was wie Fernweh.
Übrigens begann diese ganze Tobias-Schneider-Geschichte auch verrückterweise mit einem Traum, völlig aus dem Nichts heraus träumte ich eines Nachts von ihm, eigentlich was total Belangloses: Ich fand seine Brieftasche, die merkwürdigerweise aus gelbem Leder war — wochenlang beschäftigte mich dann hauptsächlich diese Frage: warum gelb? (ich interessierte mich auch gerade für Traumdeutung, natürlich auf etwas gehobenerem Niveau als gelb gleich Neid und Eifersucht, obwohl ich zeitweise auch für solche platten Schemen nicht ganz unempfänglich war und sie wohl bloß verwarf, weil ich mir auch damit keinen Reim auf die Sache machen konnte) — jedenfalls, nach dem Aufwachen wusste ich: der oder keiner. Weshalb ich auch mit einer gewissen irrationalen Hartnäckigkeit seit mehr als zwei Jahren an diesem Tobias-und-ich-Traum hänge, Vorherbestimmung und all das. Dabei könnte ich ihn zum Beispiel sowieso nicht heiraten, schon allein wegen seines Nachnamens. Mamas an diesem bestimmten Idol orientierte Namenswahl für mich muss nicht auch noch auf solch explizite Weise Genüge getan werden. Nicht, dass ich überhaupt jemanden heiraten wollte. Und ich weiß ohnehin, dass es aussichtslos ist, ich meine, das mit Tobias und mir. Das scheint geradezu eine Regel heimlicher Verliebtheit zu sein. Vielleicht hängt sie mit der anderen zusammen, der obersten und ersten: Eine heimliche Verliebtheit muss in jedem Fall und unter allen Umständen geheim bleiben. Sternchen, Fußnote: Diese Regel bedarf keiner Begründung. Man könnte aber eine anführen: Auf Verständnis zu hoffen ist sinnlos. Die Beatles gingen also nicht. YOU’VE GOT TO HIDE YOUR LOVE AWAY.