Um es kurz zu machen: ich entschied mich für Arnold Schönberg. Das war hochnäsig, kurzsichtig und brav. Ich hielt mir was auf meine Lektüre zugute, denn gerade hatte ich DER TOD IN ROM von Wolfgang Koeppen gelesen, und zwar außerhalb des Deutschunterrichts und völlig freiwillig. Die Figur des Siegfried, der, wie ich als ambitionierte und vor dem Nachwort nicht zurückschreckende Leserin herausgefunden hatte, Arnold Schönberg darstellen sollte, erschien mir nicht sonderlich sympathisch, aber interessant genug, um mir die Idee einzuimpfen, dass dieser Vortrag mir gerade recht käme, um mein Wissen über Schönberg zu erweitern. Vielleicht war es auch so, dass mir niemand Besseres einfiel, ich zu faul war, musikalische Lexika zu wälzen, und mir das Buch gerade recht kam. In jedem Fall hatten mich natürlich die dramatischen und anrüchigen Stellen gereizt, die mir hauptsächlich im Gedächtnis geblieben waren, diese Sache mit den römischen Strichjungen und der Konflikt mit seinem Nazi-Vater und so. Unter Zwölftonmusik konnte ich mir gar nichts vorstellen, und das hat sich auch nicht wesentlich geändert, was auch nicht zu erwarten war bei einer, für die schon der Quintenzirkel, der im Jahr davor von Herrn Stiehl noch pflichtschuldigst in sein Programm gequetscht worden war, eine hoffnungslose Überforderung darstellte. Herr Stiehl, als ich ihm meine Schönberg-Wahl kundtat, zog die Augenbrauen hoch und und seufzte:»Na, da hast du dir ja was vorgenommen!«
«Ich weiß«, sagte ich mit einem Anflug von Triumph in der Stimme. Dabei wusste ich nicht mehr, als dass ich nun Gott sei Dank ein gutes Vortragsthema hatte: Herrn Stiehls musiklehrerhafte Kritikpfeilchen würden sich so wirkungslos gegen die massive, auf hohen Felsen thronende Burg ausnehmen, dass er gar nicht erst versuchen würde, sie zu verschießen. Leider — oder zum Glück — hatte ich noch nicht bemerkt, dass auch ich nicht von der Zinne hinunterschaute, sondern hinauf, aus wackliger Lage auf bestenfalls halber Höhe.
Ein Problem waren zum Beispiel schon allein die sogenannten Tondokumente, die wir in unseren Vortrag einbauen sollten. In der Stadtbibliothek hatten sie natürlich nichts, geschweige denn in der mickrigen Schulbibliothek. Also blieb mir nichts anderes übrig, als Herrn Stiehl selber zu fragen. Er grinste, glubschte mich durch seine dicke Hornbrille an, sagte:»Na, hast wohl nix gefunden, wa?«, obwohl ich ihm genau das ungefähr fünf Sekunden vorher mitgeteilt hatte, und bestellte mich für nach der sechsten Stunde in seinen Musikraum.
Mir war den ganzen Tag nicht wohl bei dem Gedanken. Mit einem mulmigen Gefühl stieg ich um eins die dunklen Treppen rauf; der Musikraum liegt in einem efeubewachsenen Seitenflügel, in dem nur noch ein weiterer Raum für Unterricht genutzt wird, früher diente er, glaube ich, als Internat. Eigentlich schön, besonders der große Balkon, zu dem vom Musikraum eine Tür führt, fasziniert mich, wir dürfen aber nicht rauf, aus irgendeinem willkürlichen Schulverbotsgrund, den wir hinnehmen wie alles Schulisch-Unbegreifliche, die Schule wäre ja nicht mehr die Schule, würde sie plötzlich dem Rechtfertigungszwang des wahren Lebens unterliegen. Wir würden uns ganz schön verloren vorkommen, glaube ich.
Es war heiß an dem Tag, alle schienen nach dem Schlussklingeln so schnell es ging geflohen, denn das ganze Gebäude und der Schulhof waren plötzlich menschenleer, kein Blatt regte sich in der staubtrockenen Luft, und bloß ich schlich noch umher und irgendwo — hoffentlich, hoffentlich nicht — Herr Stiehl. Ich hatte Durst, seit Stunden. Und das kam bloß daher, weil Katharina in ihrer üblichen Dreistigkeit mich gefragt hatte, ob ich was zu trinken hätte,»Ey, Romy, haste was zu trinken?«, und ich in meiner üblichen Schüchternheit, die die Lehrer für Höflichkeit und Hilfsbereitschaft halten, mich nicht getraut hatte, Katharina den Inhalt meiner Flasche vorzuenthalten, und Katharina mit Hilfe ihrer Dreistigkeit diese bis auf den letzten Tropfen ausgeschlürft hatte, nicht ohne zwischendurch angewidert zu bemerken:»Das is ja Pfefferminztee!«Wahrscheinlich war das ein hinreichender Grund für sie, mich weiterhin mit Verachtung zu strafen, nach dem Motto: Wer Pfefferminztee trinkt, kriegt doch nie einen ab. Und wahrscheinlich wäre es aussichtslos, Katharina den Unterschied zwischen Kausalität und Koinzidenz erklären zu wollen.
Das kühle, kellerdunkle Treppenhaus hätte ich als Erleichterung empfunden, wäre ich nicht mit jedem Schritt einem kleinen, bebrillten Monstrum nähergekommen. Als ich vorsichtig den Musikraum betrat, war er leer. Das Sonnenlicht fiel grünlich durch die alten Fenster, es war stickig, obwohl die Tür zum Balkon offen stand. Offen stand wie eine einzige Versuchung. Das ist die Gelegenheit, dachte ich. So geräuschlos wie möglich ging ich darauf zu. Ich weiß auch nicht, was ich mir eigentlich davon versprach, davon, endlich diesen Balkon zu betreten. Er würde ja nun nicht gerade unter meinem unwesentlichen Gewicht zusammenbrechen. Was ich allerdings nie erfahren sollte. Denn kaum hatte ich die Balkontür erreicht, beinahe schon berührt, erscholl Herrn Stiehls Stimme vom anderen Ende des Raumes her:»Na, da bist du ja endlich!«
Ich fuhr wirklich ein bisschen zusammen, wie ertappt, aber Herr Stiehl interessierte sich gar nicht für mein verbrecherisches Vorhaben, sondern nur für meine nicht existente Verspätung, anscheinend wollte auch er so schnell wie möglich hier raus. Gut, dachte ich, in spätestens fünf Minuten hast dus überstanden.
«Komm ma mit«, sagte Herr Stiehl, und während ich noch kurz und instinktiv zögerte, ihm zu folgen, wurde er auch schon wieder ungeduldig:»Na los, nu komm schon!«
Übrigens fällt es Herrn Stiehl nie ein, uns etwa zu siezen, was anscheinend auch keinem von uns komisch vorkommt, würde er es tun, wäre die Irritation größer. Er verschwand durch eine kleine, ins Dunkel führende Tür neben der Tafel, und ich trabte ihm wohl oder übel hinterher. Mir schossen sämtliche Gerüchte, die ich jemals über Herrn Stiehl gehört hatte, durch den Kopf, die allesamt darin kulminieren, dass er» mal was mit einer Schülerin gehabt «haben soll, vor ewigen Zeiten, als sogar Mama noch zur Schule ging, die ihm mal bei einem Ausflug verschiedener Chöre begegnet war und daher meine Vorbehalte gut verstehen kann; als ich ihr erzählte, dass wir Herrn Stiehl in Musik kriegen, war sie geradezu entsetzt, was mir zu denken gab. Auf diesem Ausflug mussten sie in einer Scheune im Stroh schlafen, und ausgerechnet Herr Stiehl hatte sich neben Mama gelegt,»mit Absicht«, wie sie anmerkte, ohne näher zu erklären, worin genau diese Absicht ihr gegenüber bestanden hätte.»Na ja!«, sagte sie bloß, als ich sie fragte, und er habe sich bis auf den Schlüpfer ausgezogen und fürchterlich geschnarcht, und sie selbst habe die Nacht über kein Auge zugetan und sich trotz der Hitze fest in ihre muffige Decke gewickelt. Diese im Prinzip dürftige Episode erzeugte, vielleicht gerade aufgrund ihrer Dürftigkeit, hinter der ich wohl sonstwas vermutete, ein heilloses Assoziationenwirrwarr in mir, und ich sagte zu Mama, und, wie ich heute denke, auch, um mich selbst zu beruhigen:»Aber es ist doch gar nichts passiert, oder?«