«Nein — das nicht«, gab sie gedehnt zu,»aber die andern haben ja auch immer gesagt, pass auf, der macht Stiehl-Augen. Wenn du weißt, was ich mein!«
So genau wollte ich es aber gar nicht wissen, immerhin hatte ich noch mindestens drei Schuljahre mit Herrn Stiehl vor mir.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte mit der Schülerin dann vor oder nach Mamas Erlebnis passiert ist, jedenfalls soll er die auf eben solch einem Ausflug» verführt «haben, und die Munkelei hatte sich hochgeschaukelt bis zu Schwangerschaft und Abtreibung und vorzeitigem Schulabgang des Mädchens. Ich konnte mir das Ganze eigentlich nicht so richtig vorstellen, ich meine: Herr Stiehl! Womit sollte er sie denn becirct haben? Etwa durch eine Fahrt in seinem senfersatzfarbenen Wartburg? In dem er immer noch mit stolzgeschwellter Brust und quietschenden Reifen um die Schulecke und über den Hof feuert, ohne Rücksicht darauf, ob sich die Schülerschaft noch rechtzeitig durch eine Hechtrolle in Sicherheit bringen kann, um ihn dann nicht wie alle anderen auf dem Schulparkplatz, sondern direkt vor dem Eingang zu seinem Reich, besagtem Seitenflügel, abzustellen. Allerdings wird immer wieder behauptet, in dieser bunten Welt sei alles möglich, woran ich manchmal auch geneigt bin zu glauben, mal mehr, mal weniger gern.
Dieses Hinterzimmer, in das ich Herrn Stiehl gefolgt war, entpuppte sich als eine Art Musikalienlager, verschiedene Instrumente lagen teils in Regalen, teils auf Stühlen herum, darunter sogar ein Saxophon, und ich fragte mich, ob Herr Stiehl wohl darauf spielen könnte, und stellte es mir vor. Ich konnte mir plötzlich kein passenderes Instrument für ihn denken. Jedenfalls ging mir die allgemeine Saxophonbegeisterung und alles, was subkulturmäßig oder wie man es nennen soll damit zusammenhängt, schon zu dem Zeitpunkt gehörig auf die Nerven, und der Gipfel ist jetzt erreicht, seitdem Melissa, schon der Name! sich aufschwingt, das coolste aller sich irgendwie als cool empfindenden Individuen an unserer Schule zu werden, sich die Haare mit Henna rot färbt und angefangen hat, bei jeder noch so blöden Veranstaltung in der Aula uns mit den Ergebnissen ihres Saxophonunterrichts zu belästigen, und komischerweise kommt niemand auf die Idee, das nicht toll zu finden. Das Saxophon jedenfalls ist für mich der Inbegriff der Schmierigkeit. Vielleicht bin ich nur langzeitgeschädigt durch dieses geschmacklose Tagebuch, das ich damals zu Weihnachten bekam, aber dafür vermutlich auch lebenslang immun gegen das Gift dieses fast schon obszönen Getrötes, bei dem sich doch automatisch das Bild von rötlich beleuchteten, verrauchten Bars einstellt und wahrscheinlich auch einstellen soll, in denen sich gestrauchelte Existenzen einen Whiskey nach dem anderen in die Kehle gießen und dabei lediglich einen einzigen Gedanken in ihrem whiskeyerweichten Hirn am Glimmen zu halten vermögen, nämlich wie sie jetzt schnell noch jemanden in die Kiste kriegen. Oder, noch schlimmer, der Möchtegern-Casanova, der die gerade erst aufgegabelte Neue zu sich nach Hause einlädt, um ihr seine Kochkünste angedeihen zu lassen; züchtig bekleidet, er im neuerdings rosa Hemd, sie im adretten Kostümchen, sitzen sie sich gegenüber; wenn sich ihre Blicke wie zufällig treffen, schauen sie schnell auf ihren Teller, auf dem sie die Ordnung der präzise angerichteten Seezunge in Champagner an Rucola-Gorgonzola-Salat durch Hin- und Herschieben der Bestandteile zerstören, sozusagen als Sinnbild für den nun kurz bevorstehenden Einbruch der Lotterhaftigkeit, denn spätestens nach dem zweiten Glas Rotwein legt Casanova eine CD mit Saxophoninstrumentals ein und wartet nun, unter Einsatz seiner erfahrenen Hände, sekündlich darauf, dass das abgefütterte und abgefüllte Weibchen endlich seine Beine breitmacht.
Herr Stiehl schloss verschiedene Schränke auf, deren Türen sich wie von allein knarrend und sperrangelweit vor ihrem Herrn und Meister öffneten, und wühlte geräuschvoll darin herum, es klang fast wie ein Schmatzen, wenn die durchgeblätterten CDs aneinanderklatschten. Mein Eindruck, hier quasi in seine Privatgemächer eingelassen worden zu sein, bestätigte sich, als mein Blick auf ein schmutzigweißes Unterhemd fiel, das schlaff über einer Stuhllehne hing. In diesem Halblicht konnte ich es nicht erkennen, aber ich vermutete, dass Herrn Stiehls beigefarbenes Hemd ausufernde Schweißflecken unter seinen Achseln aufwies, der ganze Odor dieses engen Kabinetts sprach jedenfalls dafür. Es dauerte eine Weile, bis Herr Stiehl fand, was er suchte, und ich hegte schon die Befürchtung, dass er gar nicht genau wüsste, ob er überhaupt etwas für mich hätte, und ich am Ende umsonst hergekommen wäre. Dann drehte er sich plötzlich um und ließ mir seinen kurzen Arm entgegenschnellen,»Da!«, von dessen knorpeligem Ende ich eine CD pflückte.
Es waren Klavierwerke von Schönberg, mehr hätte er nicht.»Danke«, sagte ich. Ob ich damit was anfangen könne, fragte er. Ich wusste nicht genau, was er meinte: Ob mir Schönbergs Musik gefalle, so im Allgemeinen? Oder ob ich es für den Vortrag gebrauchen könne?» Ich hoffe es«, sagte ich und hoffte, dass ich mich für die richtige Interpretation seiner Frage entschieden hatte und sie keine weiteren nach sich zöge.
«Vielen Dank«, schabte ich mir noch mal wie Belag von meiner klebenden Zunge und betrachtete das schon als Einleitungsworte zu meinem Abgang, als er sagte:»Wart ma. Ich hab noch was für dich.«
Oh nein, dachte ich, nicht das. Ich hatte schon von seiner Angewohnheit gehört, Schülerinnen manchmal Süßigkeiten zu schenken, irgendwelche backsigen Bonbons und Schokoladenostereier kurz vor Weihnachten, die er hier offenbar hortete, und fast erwartete ich, dass er in seine Hosentasche greifen und etwas daraus hervorziehen würde. Schon allein der Gedanke daran verschärfte meinen Durst gleich noch mal um mindestens fünfzig Prozent. Aber er verschwand um die Ecke und kam wieder mit zwei Büchern, das eine sei für mich,»und das andre gib ma Anita!«.
Damit war ich entlassen. Meine innere Verfasstheit besserte sich entsprechend meinem Rückweg in Stufen: Zunächst, als ich wieder in den Musikraum trat, wurde es heller und mir damit schon wesentlich lichter zumute, danach, auf der kühlen Treppe, verlor sich die drückende Luft und ein wenig die Unerträglichkeit meines Durstes, draußen endlich umfing mich die Frühsommerluft, die Geräusche der Wirklichkeit drangen an mein Ohr, und froh schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr nach Hause.
Ach, jetzt hör auf, Romy. Das taugt ja doch nicht für eine Geschichte.
Und ganz wahr ist es auch nicht. Denn noch bevor ich aus dem Musikraum raus war, hatte ich natürlich einen Blick auf die beiden Bücher geworfen. Das eine trug den Titel KOMPONISTEN DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS. Das andere diesen: YESTERDAY. WIE DIE BEATLES DIE WELT VERÄNDERTEN. Begossener Pudel ist gar kein Ausdruck, so wie ich die Treppe runterschlich. In mir sofort das starke, gerechte, ohnmächtige Gefühl, dass hier ein Irrtum vorliegen müsse. Wie im Märchen, dachte ich, oder wars in der Bibel, in irgendwelchen Sagen, gab es nicht solche Geschichten, in denen der Held, die Heldin einer schrecklichen Verwechslung unterliegt, und erst am Ende wird die wahre Natur aller Beteiligten offenbar? Aber mir fiel kein einziges Beispiel ein, nur an Allerleirauh musste ich plötzlich denken, das Mäusepelzchen. Aber es wollte nicht auf Anita passen, hinter deren Trampelhaftigkeit sich — ja, was verbarg? Doch nicht etwa eine Vorliebe für die Beatles. Das konnte einfach nicht sein.