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Ich hatte sofort Herrn Stiehl im Verdacht. Anita war fast zwei Wochen krank gewesen und fiel bei ihrer Rückkehr aus allen Wolken, als sie von dem anstehenden Vortrag erfuhr, denn keiner hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass man ihr diesen Umstand vielleicht mitteilen müsste. Zwar wurde irgendwer abbeordert, ihr die Hausaufgaben zu bringen, und zum Glück hatte es nicht mich getroffen, sondern Linda, die auf die Schnelle nun nichts daran zu ändern vermochte, in der geringsten Entfernung zu Anita zu wohnen, nämlich im selben Aufgang, aber auch Linda verschlampte Herrn Stiehls»Übung zur Selbständigkeit «komplett, was man ihr nicht verübeln konnte, da Musik in unser aller Bewusstsein den denkbar niedrigsten Stellenwert einnahm, immer hart an der Grenze zur Verdrängung. Und so hatte Herr Stiehl wohl Erbarmen mit Anita gehabt und ihr kurzerhand das noch von niemandem besetzte Thema ›Beatles‹ aufs Auge gedrückt, was nur meine Vermutung zur allgemeinen Haltung den Beatles gegenüber bestätigte.

Nein, das Mäusepelzchen war ich. Versteckte mein edles, stolzes, sternenschimmerndes Wesen unter einem grauen Mantel, der aus Versatzstücken von Zurückhaltung, Pflichtbewusstsein, Menschenscheu, Harmlosigkeit und Blässe zusammengeflickt war, und wagte es nicht mal, den goldenen Ring in die Suppe zu werfen, war noch ängstlicher als die Prinzessin. Weil sich wohl der Verdacht aufdrängte, wirklich keine zu sein. Ich würde nie mit dem Prinzen tanzen.

Beide Bücher nahm ich vorläufig mit nach Hause. Die Komponisten DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS hätte ich am liebsten in die Ecke gefeuert. Ich legte es auf den Schreibtisch und ließ meine schlechte Laune beim Mittagessen an Mama aus. Den Grund erfuhr sie natürlich nicht. Mein Interesse an Arnold Schönberg war unter null gesunken, dafür verschlang ich das Beatles-Buch, obwohl es mir nicht viel Neues mitzuteilen hatte, denn aus der Stadtbibliothek hatte ich längst sämtliches verfügbare Material ausgeliehen und mir einverleibt. Ich hätte einen Vortrag aus dem Stegreif, nicht schleppend vom Blatt, sondern frisch von der Leber weg halten können. Ich hätte schon allein dafür eine Eins bekommen. Ich hätte mit meiner Sachkenntnis und farbig erzählten Anekdoten beeindruckt, mit meiner Begeisterung die ganze Klasse samt Herrn Stiehl angesteckt, ach was, hingerissen. Ich hätte mich in den Arsch beißen können.

Nun sollte ich dieses Thema, dieses Buch, wenn auch nicht diesen Triumph, Anita überlassen? Für kurze, aber immer wiederkehrende Momente erwog ich, es einfach einzubehalten. Es erschien mir ungefährlich — schließlich wusste Anita nichts von diesem Buch und Herrn Stiehl würde bei ihrem mittelmäßigen Vortrag nicht auffallen, ob sie es nun benutzt hatte oder nicht — und nicht direkt ungerecht, eher im Gegenteil. Das war meine erste Erfahrung auf diesem Gebiet, von dem ich schon gehört, na wohl eher gelesen hatte, dass es nämlich Bücher gebe, als deren natürlicher Eigentümer man sich betrachte, ob sie einem nun gehören oder nicht, und meistens gehören sie einem nicht. Ich habe nie ein Buch geklaut oder so, war aber öfter nahe dran, wobei mir dann aber immer der Aufwand, die Unannehmlichkeiten in keinem gesunden Verhältnis zum Gewinn zu stehen schienen. Ja, ich bin ein Schisser, ängstlich, bequem und feige. Auch bei diesem Buch fiel mir ein Grund ein, es nicht tun zu müssen, denn schließlich würde Herr Stiehl es irgendwann von Anita zurückfordern, jedenfalls war das wahrscheinlicher, als dass er es vergessen würde, obwohl das bei ihm nicht ganz außerhalb des Möglichen lag, aber ich wollte es nicht drauf ankommen lassen, Anita würde also wieder mal aus allen Wolken fallen, und was dann? Ich bin nicht gut im Lügen. Genaugenommen bin ich beinahe fast gänzlich unfähig dazu.

Ungefähr drei Tage vor dem Vortrag nahm ich YESTERDAY mit in die Schule und gab es der überraschten Anita. Sie sagte, dass sie nun eigentlich schon fertig sei mit der Ausarbeitung ihres Vortrags, was wiederum mich überraschte, oder eigentlich auch nicht, bei Anita. Ich meine, wer eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn schon auf dem Schulhof steht und Lehrern Gespräche aufdrängelt. Ich selbst hatte gerade mit der Arbeit angefangen, nach meiner üblichen Methode, mit dem geringstmöglichen Aufwand ein optimales Ergebnis zu erreichen. Diese Methode wird in neunundneunzig Prozent der Fälle bestätigt. Jedenfalls bei mir. Denn dazu gehört, wie manche irrtümlich glauben, nicht nur natürliche Faulheit. Sondern auch — muss ich es eigentlich aussprechen? — natürliche Intelligenz. Die bei den meisten — nun ja.

Überrascht war ich dann trotzdem. Nicht von Anitas Vortrag, der war ungefähr so, wie ich mir das gedacht hatte, und eine einzige Marter für meine Seele. Und dann ließ sie als Beispiel ausgerechnet ROLL OVER BEETHOVEN ertönen, was sie anscheinend besonders originell im Hinblick auf das Thema fand, nur dass es kein Original der Beatles ist, wusste sie leider nicht und Herr Stiehl offenbar auch nicht. Die nachträgliche Bemerkung, dass der Song auf das Konto von Chuck Berry ginge, erschien mir dann aber doch zu oberschlau, um sie wirklich loszulassen, und auch irgendwie sinnlos. Die Beatles gehörten nicht hierher, eindeutig.

Überrascht war ich nur von mir selber, dass ich es trotz ungewöhnlich schlechter Vorbereitung, nur mit Hilfe der mageren Informationen aus Herrn Stiehls Buch, im Prinzip nicht vorhandenem musikalischen Verständnis und dazu noch absoluter Unlust schaffte, einen ganz passablen Vortrag aus dem Hut zu zaubern. Vielleicht haben es die eingebauten Zitate aus dem TOD IN ROM rausgerissen, die vornehmlich der Streckung der ohnehin schon dünnen Wissenssuppe dienen sollten, aber so was zieht anscheinend immer. Herr Stiehl gab mir eine Eins. Ich war erleichtert. Darüber, dass dieses schmähliche Kapitel nun endlich abgeschlossen war.

HARTMUT

Ich hab gedacht, die Sache wär ein für allemal gegessen. Als sie denn damals weg war, dachte ich, na, da isses nun wenigstens vorbei, ne. Da brauch ich mir nun keinen Kopp mehr machen, weg ist weg, war mir auch egal. Und jetzt bin ich schon die ganze Woche nicht im Dorf gewesen, hab mich nicht blicken lassen, nicht mal zum Fußball, und Hansi kommt nachher an und sagt, Mensch, wo warst du denn.

«Wir ham die fertiggemacht, die Ducherower, richtig rund gemacht ham unsre die, die haben den’n paar Dinger ringeknallt, Mann, da haste wat verpasst, sag ick dir, wieso warste denn nich, du wolltst doch komm’!«

«Ja, wollt ich«, hab ich gesagt,»ging nich.«

«Wieso?«, fragt der da.

Wieso kann der nu nicht einfach sein Maul halten. Ich sag gar nix, bloß noch:»Na, Mann!«, und guck ihn so an wie: Nu hör ma auf mit der Nerverei.

Da sagt er:»Achso.«

Ich sag:»Wie: ›achso‹?«

Und er:»Na, wegen Britta, oder wat? Hat die n Zappen oder wat?«

«Ach«, sag ich,»das nu nich grade.«

Da guckt der mich erst an wien Auto und fängt denn auf einmal an zu grienen, über sein ganzes breites Bauerntölpelgesicht, ne, weißt ja, wie der grienen kann, hat der ja schon früher immer gemacht, wenn er nicht weiterwusste, in der Schule oder wo, hat der angefangen zu grienen, so richtig doof, die haben den deswegen ja auch alle immer für bekloppt gehalten, die Lehrer und so. Aber so doof ist der nu auch wieder nicht. Sagt der doch:»Achso, jetz versteh ick … Na! Da wär ick ja uch lieber zu Hause gebliebn. Bei deine Britta!«

Und grinst mich mit seinem Schweinegrinsen immer weiter an. Ich hätt ihm ja am liebsten eins aufs Maul gehaun. Aber ist ja nun mein Kumpel Hansi, nich, Hansi, bist doch mein bester Kumpel, denkst du doch, ne.

«Ja ja«, sag ich bloß, und er lacht. Soll der doch denken, was er will, ist mir doch egal. Wird der natürlich gleich rumerzählen, ist nämlich son richtiges olles Klatschweib, Hansi, der kann nicht anders. Ich sag immer, der braucht auch keine Frau, macht der schon alles selber. Und nun spinnt der sich was zusammen über Britta und mich, als ob ich nu mitten am Sonnabendnachmittag nix Bessres zu tun hätt als … Zum Piepen, eh! Dabei hat Britta ja nun am allerwenigsten damit zu tun, ich muss bloß aufpassen, dass die nun nicht noch Wind davon kriegt. Ich weiß nicht, was die eigentlich weiß dadrüber und was nicht, ich glaub, ich hab ihr im Suff da mal was erzählt. Ich dachte, das hätte die längst vergessen, aber wie sie dann nach der Beerdigung anstolziert kam und sagte, dass ich ja nie drauf kommen würde, wer, oder nee, wie hat sie noch gesagt — na, jedenfalls, dass» die Tochter «von der ollen Hanske dagewesen wär, weißt, da tut die noch so, als ob sie nicht genau wüsste, dass die Ingrid heißt, dass das Ingrid war.