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Gerda hat einmal ein Bild von mir gemalt, das sah richtig echt aus, da hab ich fast nen Schreck gekriegt, dass ich so ausseh, aber das stimmte. Sie konnte ja so gut zeichnen, da hat sie allen was vorgemacht, aber die dicke Mennig hat ihr trotzdem bloß immer ne Zwei gegeben. Da hab ich mich drüber aufgeregt, viel mehr als Gerda, die hat bloß gesagt,»lass doch«. Wenn wir zusammen was gezeichnet haben, war ich immer n bisschen neidisch, aber dann hab ich wieder gedacht, na egal, nützt ihr ja doch nix, in der Schule. Ging ja ständig alles bloß um die Schule. Aber nachmittags, wenn ich nicht grade alleine war oder Kaninchenfutter holen musste, dann war ich mit Gerda unterwegs, mit dem Fahrrad über die Dörfer, über alle Berge bis zum Dunkelwerden.

Als sie dann weggezogen sind, hatte ich schon andere Dinge im Kopf. Da bin ich mit Rosi und Marina los zur Disco, und Gerda durfte meistens nicht, und wir hatten sie eigentlich auch nicht so gerne dabei, weil sie immer früher als wir nach Hause musste, und einer musste sie bringen, und getanzt hat auch nie einer mit ihr, außer ich, und da tat sie mir immer bloß leid, da hatte ich irgendwie immer n schlechtes Gewissen, wieso eigentlich.

Wir haben uns noch länger geschrieben, und auch in den Briefen war sie gnadenlos ehrlich wie immer, und das war mir manchmal fast zu viel. Wie sie von ihrem Vater schrieb, dass er zu viel trinkt, dass er manchmal angetrunken in den Gottesdienst geht, dass er an zwei Sonntagen hinternander die gleiche Predigt gehalten hat. Dass sie nicht weiß, was sie machen soll.

Und was hab ich ihr geschrieben? Dass es mir gut geht, was nicht stimmte, dass ich oft an sie denke, was auch nicht stimmte, dass die Lehre mir Spaß macht, was erst recht nicht die Wahrheit war, und was die Wahrheit war, hab ich nicht geschrieben. Dass ich meistens alleine bin. Dass mir oft langweilig ist. Dass ich eigentlich keine Freundin mehr hab. Dass mein Vadder säuft, dass meine Mudder auch angefangen hat, dass mein Vadder meine Mudder grün und blau schlägt, dass ich zur LPG muss und sie krank melden. Dass ich nicht weiß, was ich machen soll.

Na ja, Gerda hat dann aufgehört, mir zu schreiben, aber auch nicht einfach so. Ihr letzter Brief war kaum ne halbe Seite lang, und sie hat sonst sechs oder acht geschrieben, das war für sien Klacks, während ich mich immer mehr rumgequält hab, überhaupt zwei oder drei vollzukriegen. Sie hat da nix weiter geschrieben, als dass ihr Vater gestorben ist. Aber ›gestorben‹ hat sie nicht geschrieben. Sondern so, wie es war. Und er war Pastor.»Mein Vater hat sich letzten Mittwoch aufgehängt. Meine Mutter hat ihn gefunden, aber er war schon tot. «Und dass sie mir jetzt nicht mehr schreiben könnte, und ich soll nicht fragen, warum, und ihr auch nicht mehr schreiben.

JOHN & PAUL

UND WENN ALL DIE UNGLÜCKLICHEN MENSCHEN AUF DER WELT SICH VERSTÄNDIGEN

WIRD ES EINE ANTWORT GEBEN: LASS ES SEIN

AUCH WENN SIE GETRENNT SEIN MÖGEN GIBT ES IMMER

NOCH EINE MÖGLICHKEIT

DIE SIE SEHEN WERDEN

ES WIRD EINE ANTWORT GEBEN: LASS ES SEIN

ROMY

Das werd ich nie kapieren, wo die ihre Klingel haben, vielleicht ist das die Wachlowski’sche Art, sich vor ungebetenen Besuchern zu schützen. Ich aber wurde wieder mal gebeten, was gar nicht nötig gewesen wäre, ein Wort hätte genügt, also: ein Name. Und während ich noch überlege, ob ich ihn vor mir selber aussprechen soll, geht die Tür auf.

«Ich hab dich gesehen, vom Fenster aus«, sagt Ella und lächelt ein bisschen verlegen.»Ich hab Kuchen gebacken. Muss bloß noch Guss rauf.«

Sie lässt mich vorgehen in ihr Zimmer, ich suche mir den roten Sessel aus, der, in dem Paul das letzte Mal gesessen hat, weshalb mir mein Hintern darin jetzt fast als unrechtmäßiger, na ja, Besitzer vorkommt, aber noch ist wohl nichts endgültig festgelegt.

«Der ist toll«, sage ich, Ella lächelt wieder, eigentlich ist sie ganz hübsch, man sieht das sonst gar nicht so. Zumindest hat sie das, was immer mein Wunschtraum war: lange dunkle Haare. Meine eigenen sind ja bloß undefinierbar gelb und irgendwie nicht der Rede wert.

Ich stelle mir Ella in einem mongolischen Epos vor, wie sie unter bleischweren Wolken mit wehender schwarzer Mähne auf einem Steppenpferd mit ebenso wehender Mähne über die Steppe reitet, ihr Haar die Todesflagge des dräuenden Krieges: Wird sie den kühnsten aller Krieger, ihren herrlichen Geliebten, noch erreichen in seiner Jurte, noch verkünden können ihm die schreckliche Botschaft, bevor das feindliche Heer gleich einem donnernden, vernichtenden Ungewitter über die unbewehrte Siedlung hereinbricht?

«Paul ist noch nicht da«, sagt Ella, was ich ja sehe.»Ich hoffe, er kommt noch«, fügt sie plötzlich hinzu, und dann, fast entschuldigend:»Es ist ziemlich viel Kuchen. — Ich mach den mal fertig.«

Die Treppe gibt bei jedem ihrer Schritte ein knarzendes Geräusch von sich, obwohl man genau hören kann, dass Ella versucht, sacht aufzutreten, nicht nilpferdmäßig hinunterzupoltern, und damit wahrscheinlich das erste Mal die wahrscheinliche Ermahnung ihrer Eltern befolgt: Polter nicht so die Treppe runter. Und alles wegen mir? Paul ist ja noch nicht da. Vielleicht auch bloß, weil frisch gebohnert ist, dieser altertümliche, wie aus einem versunkenen Jahrhundert wieder aufgestiegene Bohnerwachsgeruch dringt bis in Ellas Zimmer. Ich hatte ihn völlig vergessen. Er muss quasi mit der DDR verschwunden sein, die ich kaum kennengelernt habe, kaum hatte ich ihren Namen schreiben gelernt, war sie schon wieder weg. Im Moment fällt mein Leben in zwei Hälften auseinander, wie ein geteilter Apfel, und genau wie ein Apfel auch nicht in zwei gleich große: Die eine Hälfte bekommt den Stiel, mehr vom Kerngehäuse und auch mehr Fruchtfleisch, bei mir heißt sie wiedervereinigtes Deutschland, und die kleinere, unkompliziertere DDR, und sie ist es deshalb, weil ich ein achtjähriges Kind war, als mein Leben zwei Hälften bekam. Die mit der Zeit so antrockneten und verschrumpelten, dass sie beim Gegeneinanderhalten nicht mehr zusammenpassen. Und merkt der Apfel die Teilung? Ich merke nichts. Oder nur so kleine Sachen, Unterschiede im Aroma, Bohnerwachs.

Unsere Hosenboden waren nachher immer voll von rotbraunen Schmierstreifen, wenn wir in unserem alten, aber ehrenwerten Mietshaus wieder mal die Treppe runtergerutscht waren, runtergehopst von Stufe zu Stufe auf unseren kleinen Hinterteilen, so schnell, dass man wirklich schon fast von Rutschen sprechen konnte, nahe an vierundzwanzig Stufen pro Sekunde. Das gab Mecker, das ging nicht mehr raus, und unsere Hintern wurden grün und blau, ganz ohne Schläge. Und einmal bin ich tatsächlich drauf ausgerutscht, und der Schock war größer als der Schmerz, denn ich hätte doch nie gedacht, dass das wirklich passieren würde, wie ja auch nie einer wirklich auf einer Bananenschale ausrutscht, obwohl ich diesen Slapstick da noch gar nicht kannte, weil sich ja, wie allgemein bekannt und bewitzelt, Bananen bei uns derart an der Grenze des Möglichen und Erringbaren bewegten, dass man die meiste Zeit vergaß, dass es sie überhaupt gab, und das war auch besser so, denn es gab sie ja nicht. Mein Hintern tat mir mindestens eine Woche lang weh, trotzdem konnte ich es nicht glauben, dass alle Warnungen und Prophezeiungen meiner Mutter aufs Genaueste und also Demütigendste eingetroffen waren. Ich glaube so was immer noch nicht, ich habe das fast körperliche Gefühl, ich darf nicht, ich darf gar nicht erst damit anfangen.