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Und es ist derselbe Hintern, der sich jetzt in Paul McCartneys Sessel schmiegt, der ja Ellas Sessel ist, und beinahe warte ich drauf, dass es poltert, dass Ella ausrutscht mit ihren ausgeleierten Plüschlatschen auf der gebohnerten Treppe.

Mein Blick wandert durch ihr Zimmer. Es ist erstaunlich normal. Erstaunlich gemütlich. Na was hast du denn erwartet, Romy? Eine Bierdosensammlung? Schwarzgestrichene Wände, eine Grufti-Höhle? Das Einzige, was mich ein wenig befremdet, sind die Augen von Kurt Cobain, die mich von der Wand gegenüber anstarren, sehr weiß. So was gibts also noch, hab ich länger nicht gesehen. Aber auf den Schulfesten kramen sie auch noch jedesmal SMELLS LIKE TEEN SPIRIT raus, und, ich gebe es zu, auch zu meiner Freude, denn es ist ja wenigstens was, wonach man mal tanzen kann, nachdem man vorher ungefähr zweieinhalb Stunden rumgesessen und auf» was Gescheites «gewartet hat. Es ist immer ein Elend. Man fragt sich, warum man überhaupt noch hingeht, zu diesen Herbstbällen, Schneebällen, Faschings- und Sommerfesten. Weil Nichthingehen noch unerträglicher wäre, weil man dann zu Hause sitzen und sich ärgern würde, die einzige Chance, sich vielleicht mal irgendwo zu» amüsieren«, gerade durch eigene Schuld zu verpassen, während sich alle anderen vielleicht, vermutlich, höchstwahrscheinlich gerade» köstlich amüsieren«, und man am nächsten Tag in der Schule wie der letzte langweilige Trottel dastünde, weil man wieder mal nichts mitgekriegt hätte und sowieso überhaupt keine Ahnung, worüber gerade getuschelt wird? Ja.

Außerdem natürlich: Tobias. Um ihm über den Weg zu laufen, einen Blick, ein Lächeln, Moleküle seines Duftes zu erhaschen, womöglich sogar: ein Grüßen. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als hinzugehen. Weil ich in einer ständigen Panik vor den Geschossen des Schicksals lebe, die allesamt aus einer Kanone mit der Aufschrift ›Verpasste Gelegenheit‹ abgefeuert werden. Ich habe das längst durchschaut, aber aus irgendeinem Grunde komme ich nicht aus der Schusslinie.

Und dann sitzt man doch nur wieder rum und betrachtet mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Abscheu die bizarren Pärchen, die sich im Eins-Zwei-Tip-Schritt zu Eins-Zwei-Tip-Musik übers Parkett schieben, beobachtet seine eigene Laune beim Absacken in tiefste Kellergewölbe, und wenn man einen Blick von ebenso trostlos rumsitzenden Leuten auffängt, rollt man mit den Augen, beteuert sich gegenseitig, wie öde man es fände, und äußert in Variationen die Meinung, dass sie doch endlich mal» was Gescheites «spielen könnten. Komischerweise herrscht da eine seltene Einigkeit zwischen mir und Leuten, mit denen ich sonst gar nichts oder nicht mehr sehr viel zu tun habe, also zwischen mir und den Coolen. Was idiotischerweise eine Selbstbenennung ist. Ich hätte das nicht für möglich gehalten, bis mich Susanne — und sie war wirklich mal meine Freundin — einmal nach einer Faschingsfeier, bei denen die meisten» von uns «nicht dabei waren, weil sie anscheinend schon was Besseres vorhatten, und Susanne selber krank gewesen war, fragte, wer denn alles da gewesen sei und ob sie was verpasst habe. Ich sagte, dass zumindest ich da gewesen sei, und zählte dann noch ein paar andere auf, worauf sie befriedigt feststellte:»Also die ganzen coolen Leute waren nicht da.«

Das war kein Witz, und ich lachte auch nicht.

«Nein«, sagte ich,»nur die uncoolen.«

Da ist ihr das berühmte ironische Susanne-Grinsen für einen kurzen Augenblick abhanden gekommen. Sie fing dann schnell irgendwas Belangloses an, aber ich hatte keine Lust zu antworten und sagte, ich hätte jetzt keine Zeit mehr. Ich glaube nicht, dass die Anzahl der Fälle, in denen jemand wirklich unter Zeitdruck steht, wenn er dies äußert, die Fünf-Prozent-Marke übersteigt. ›Keine Zeit‹ ist wahrscheinlich schon seit Menschengedenken ein Synonym für ›keine Lust‹, vermutlich ist dieser Prototyp aller Notlügen bereits vom erlernten ins angeborene Verhalten übergegangen, und so dürfte auch Susanne die Botschaft instinktiv erfasst haben. Allerdings nur die halbe. Denn für das Eigentliche, das ich sagen wollte oder hätte sagen wollen müssen, das, was beim Anblick dieser ganzen coolen Clique in mir wie Magensäure in der Speiseröhre hochsteigt, brennt und mich ständig aufstoßen lässt, fehlen mir nach wie vor nicht nur der Mumm, sondern auch die Worte. Und das verursacht mir neben diesem unbeschreiblichen Ekelgefühl die größte Übelkeit.

Vielleicht liegt es bloß daran, dass es sich bei der Hälfte davon um Leute handelt, mit denen ich mich mal angefreundet hatte, als sie uns alle in der sechsten Klasse auf dem Gymnasium zusammengewürfelt hatten und die alten Freunde teils in der Realschule geblieben, teils sowieso schon nicht mehr das waren, was man als Kind ganz selbstverständlich so bezeichnet hatte. Da kamen mit den neuen Fächern und den neuen Lehrern auch diese neuen Freundschaften über einen, oder was man so Freundschaften nannte, wenn man den einen oder anderen Nachmittag zusammen verbrachte, gemeinsam über Lehrer und Mitschüler herzog und sich gegenseitig zum Geburtstag einlud. Aber an meine legendären Kindergeburtstage, bei denen Mama der Zeremonienmeister war, die tollsten Spiele mit uns veranstaltete und wir oft nicht mehr konnten vor Gackern oder auch heulend in der Ecke saßen, weil jemand anderes den Preis bekommen hatte, an diese Geburtstagsfeierlichkeiten, die einen derartigen Höhepunkt in meinem Jahresablauf darstellten, dass ich bereits Wochen vorher kunstvolle Einladungskarten fertigte und nicht mehr durchschlafen konnte, kamen diese späteren Feiern schon nicht mehr heran.

Und wie lächerlich mir das jetzt vorkommt, wie ich jedes Jahr aufs Neue bei dieser Überfahrt, mit geringfügig wechselnder Besatzung, versucht habe, auf einem fatalen Kurs abzubremsen, vielleicht gar, eine Schubumkehr einzuleiten, und First Officer Mama gab sich nach wie vor alle Mühe. Niemand guckt gern zu, wenn sein Schiff durch Aufprall auf einen Eisberg auseinanderzubrechen droht, und so machte ich einfach die Augen zu. Es muss das Vorgefühl dieses Ekels gewesen sein, das ich nicht wahrnehmen wollte, auch nicht, als Susanne und Anja sich zu vertraulichen Gesprächen für eine halbe Stunde im Bad einschlossen, nicht, als Nadine und Beate gleich nach dem Kaffeetrinken zu einem Spaziergang aufbrachen und erst kurz vor dem Abendbrot wieder eintrudelten, und als keiner mehr zu irgendetwas anderem als Rumsitzen-und-über-Leute-Lästern zu bewegen war, ebenfalls nicht. Bis ichs kapiert hatte, mir gar nichts anderes übrig blieb, als endlich mal was zu kapieren. Und das muss eigentlich schon vor meinem siebzehnten Geburtstag eingetreten sein, der zweifellos die Krönung darstellte. Jedenfalls konnte ich mir hinterher keinen einzigen vernünftigen Grund mehr nennen, der mich dazu veranlasst hatte, meine Freundinnen noch einmal einzuladen.

Wir steckten gerade mitten im Umzug nach Bresekow, die Wohnung war schon halb ausgeräumt, und über allem hing vermischt mit dem Melassegeruch der Zuckerfabrik etwas, das ich als zähflüssige Hektik bezeichnen würde, was mir in einem Aufsatz nicht mal als Oxymoron durchginge, denn die gleichen Dinge, die wir in hochliterarischen Texten als sogenannte sprachliche Mittel wie abgerichtete Trüffelschweine aufstöbern sollen, werden uns in eigenen ja als sogenannte Ausdrucksfehler angestrichen. Aber es war diese Art von Stimmung, in der man die ganze Zeit nervös ist, weil sich etwas verändert, aber auch gerade deswegen wie halbseitig gelähmt. Es ging etwas definitiv zu Ende, und zwar mehr als nur die siebzehn Jahre, die ich in dieser pupsigen Heimatstadt zugebracht hatte. Ich kann nicht sagen, dass das Gefühl inzwischen aufgehört hätte. Aber ich habe mich dran gewöhnt. Es hat fast etwas Erregendes bekommen, dieses Atmen in letzten Zügen. So, als könnte gleich morgen irgendwas Tolles oder so passieren. Irgendwas eben. Paul zum Beispiel, vielleicht. Andererseits muss man immer noch zur Schule, und solange das nicht aufhört, wird gar nichts wirklich aufhören, und gar nichts wirklich anfangen.

Dieser Geburtstag sollte nun gleichzeitig die Funktion einer Art Abschiedsparty erfüllen, was eigentlich albern war, ich meine, wir zogen von Anklam in ein sechs Kilometer entferntes Dorf und ließen damit nicht gerade die Grenzen der bekannten Welt hinter uns, nur dass sich das für meine allesamt in Anklam wohnenden Freundinnen anscheinend anders darstellte, denn sie waren es, die es so nannten:»Du machst also ne Abschiedsparty!«Es klang, als freuten sie sich drauf. Und ich fühlte mich zu irgendwas verpflichtet.