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Zum Geburtstag an sich gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Irgendwie ist mir das auch alles ein bisschen peinlich. Als ob es mir peinlich sein müsste! Das ist so wie mit diesen Talkshows, das halte ich auch nicht aus, wie die Leute sich da zum Klops machen. Aber hier liegt die Sache noch ein bisschen anders, immerhin ging es ja um mich. Und das Peinliche daran war vielleicht nur, dass es überhaupt nicht um mich ging.

Da saß das Geburtstagskind dann allein im ockergetünchten Gemeindehauskeller zwischen Tellern und Torte und wartete eine geschlagene Stunde auf seine Geburtstagsgäste und fragte sich, ob es sich im Datum geirrt hatte. Doch siehe, um kurz vor acht tat sich die Tür auf, und der erste Gast trat ein. Es war Susanne. Ihre Begrüßung:»Hallo! Wo sind denn die anderen?«

Ich sagte, dass sich das leider auch meiner Kenntnis entzöge, aber vielleicht sei das alles ein Missverständnis. Vielleicht warteten inzwischen alle anderen schon an der Bowlingbahn auf mich, wäre doch möglich, oder? Ich glaube, für einen Augenblick war ich wirklich überzeugt davon. Aber als wir dann an der Bowlingbahn ankamen und kein Schwein da war, wunderte mich das eigentlich schon nicht mehr, und nur Susanne versuchte noch notdürftig, ein bisschen Verblüfftheit aufrechtzuerhalten.»Aber du hast doch gesagt, um acht, oder nicht?«

«Ich habe um sieben gesagt, um sieben im Gemeindehaus.«

Susanne zuckte mit den Schultern.»Tja.«

Sie setzte sich zu mir auf die flache Mauer, sprang aber gleich wieder auf und fing an, vor mir hin- und herzulaufen, ihre Arme im Takt ihrer Schritte zu schwingen und in gewissen Abständen tief Luft zu holen, um sie mit Nachdruck wieder auszustoßen. Ihr Atem hing für Momente weiß und formlos wie ein beständig wiederholter Vorwurf in der frostigen Luft. Insgesamt sah es so aus, als warte nicht ich, sondern sie auf etwas. Insgesamt sah es so aus, als warte sie darauf, dass ich sage: Du kannst gehen.

Es war weit nach halb neun, als schließlich Anja eintraf, die Susanne umarmte, als hätten sie sich mindestens elf Monate nicht gesehen, und behauptete, sie wäre schon mal da gewesen, was mich zwar in meiner Missverständnis-Annahme bestätigte, leider aber auch in der, wie diese Missverständnisse zustande kommen: weil mir offenbar nie jemand richtig zuhört.

Anja überreichte mir ihr Geschenk, der Form nach zu urteilen ein Kalender, auf dessen Erscheinen man sowieso todsichere Wetten abschließen kann, wenn man gegen Ende des Jahres Geburtstag hat, und weshalb auch zu Neujahr immer wenigstens drei Exemplare Obdach in meinem Zimmer beanspruchen. Und ich weiß nicht, ob diese Kalenderüberversorgung seit meiner frühesten Jugend die Ursache meiner Besessenheit von allem, was mit Zeit und ihrem Vergehen zu tun hat, darstellt oder ob erst diese zwanghafte Passion mich dazu veranlasste, tatsächlich allen Kalendern Platz sowohl an meinen vier Wänden sowie auch in meinem Tagesablauf einzuräumen. Denn es vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich nicht in einem von ihnen und meistens sogar allen blättere — als wollte ich überprüfen, ob die Zeit auf allen gleich vergeht, beziehungsweise eine absurde kleine Hoffnung bestätigt finden, dass sie es nicht tut — , um komplizierte Berechnungen zu meiner Jahresplanung anzustellen, vielleicht um mir vorzugaukeln, ich hätte dabei ein Wörtchen mitzureden, nur um sie gleich darauf wieder zu vergessen, was mir die Möglichkeit bietet, am nächsten Tag die gleiche Operation aufs Neue vornehmen zu können. Es ist eine Art von Freizeitbeschäftigung.

Zwischendurch, in der Schule, kommen mir Sätze in den Kopf, die so unwiderlegbar wie panikverursachend sind, Sätze wie: HEUTE IST DER ERSTE TAG VOM REST DEINES LEBENS. Oder: WENN DIE ZEIT DAS KOSTBARSTE IST, WAS WIR HABEN, IST DIE ZEITVERSCHWENDUNG DIE ALLERGRÖSSTE VERSCHWENDUNG. Mit der Zeit destillierte sich daraus in meiner geheimen Brennerei ein Tröpfchen mit dem Namen CARPE DIEM, das je nach Stimmungslage und Genussmenge anregend bis schock- oder ohnmachtsauslösend wirkt, oft in Verbindung mit der Frage: Was tue ich hier eigentlich?

Womit der ganze Geburtstag schon kurz und bündig zusammengefasst wäre, denn womöglich bedeutet es eine doppelte Zeitverschwendung, über eine solche auch noch eingehend nachzudenken. Also sei nur noch Folgendes zum Thema angeführt:

Irgendwann tauchten auch die anderen auf. Das Bowlingspiel entwickelte sich zu einer öden Art von Fiasko. Niemand außer mir zeigte Interesse daran. Als wir um zehn gehen» mussten«, war dies mit einer allgemeinen Erleichterung verbunden. Beate hatte noch eine Freundin von sich samt ihrem Freund und wiederum dessen Freund mitgebracht. Das Essen im Gemeindehauskeller wurde auch von ihnen gut angenommen. Der dadurch hervorgerufene Mangel an Tellern verurteilte mich zum Zugucken und anschließendem hastigen Auslöffeln meiner Käsesuppe, während die ersten schon darauf warteten, sich verabschieden zu können.»Aber iss mal ruhig erst noch auf. «Christine hatte ursprünglich gleich im CLUB bleiben wollen, weil sie dort mit ihrer Freundin zur Oldie-Party verabredet war, ein Ereignis, das ungefähr alle zwei Wochen stattfindet, und ich habe immerhin einmal im Jahr Geburtstag, das ist ja nun schon übertrieben oft. Folglich hatte ich es als große Gnade zu betrachten, dass sie sich doch noch bequemte, sich meiner vorbereiteten Speisen zu erbarmen. Der Rest der Gratulanten rutschte noch eine halbe Stunde wie unfreiwillige Abgesandte, die die Stellung halten sollen und es nicht schnell genug geschafft hatten, sich zu weigern, auf den beige-braun gemusterten Gemeindehausstühlen hin und her und versuchte, die Unterhaltung zur Aufrechterhaltung der freundschaftlichen Beziehungen mit Austausch über nicht Anwesende zu bestreiten.

Dann bin ich allein. Ich lege die Beatles ein. Ich schiebe den Volume-Regler weit über die Mitte der Skala und singe laut HELP! mit. Und alle folgenden Songs. Ich singe alle Stimmen, ich bin John, Paul, George und Ringo, ich spiele alle Instrumente. AND I FEEL FINE. –

Ich war erst ein paar Schritte vom Haus weg vorsichtig den dunklen Weg zur Straße entlanggetappt, als ich Konny sah. Er kam mit großen, wippenden Schritten und vornübergebeugt direkt auf mich zu und bemerkte mich doch erst, als er fast mit mir zusammenstieß.

«Nanu, Romy! Was machst du denn hier draußen? Ist dir nicht gut? Ich wollte gerade mal vorbeischauen, mal hallo sagen wenigstens, hatte ich ja versprochen, oder?«

Ich guckte auf sein überdimensionales Ohrläppchen.»Du kannst wieder nach Hause gehen«, sagte ich, und das Du kam mir zum ersten Mal nicht komisch vor, mir war, als spräche ich mit einem Kind.»Es ist vorbei.«

Schon an der Straße angelangt, hörte ich Konny rufen:»Herzlichen Glückwunsch übrigens!«

Im orangen Licht der Straßenbeleuchtung schwamm ich nach Hause, und meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf meinen Schatten, der beim Passieren einer Laterne langgezogen vor mir lag, auf dem Weg zur nächsten stetig schrumpfte und, wenn ich die Hälfte überschritten hatte, plötzlich hinter mich zurücksprang, womit das Spiel in meinem Rücken von neuem begann. Als ich schließlich aufsah, zogen die geheimnisvollen Anlagen der Zuckerfabrik meinen Blick an, die wie von innen heraus blaugrün leuchteten und kurz vor ihrem Start in eine andere Galaxie zu stehen schienen.

Am nächsten Tag ging ich aufräumen, und beim Anblick der sogenannten Geschenke, die noch zwischen den resteverklebten Gläsern und Tellern, den Zerfallsprodukten von Kuchen und Knabberzeug rumlagen, überlegte ich kurz, ob sie den gleichen Weg wie die zerknüllten Servietten und anderen Abfälle gehen sollten. Aber dann beschloss ich, sie mitzunehmen, mit in die Umzugskartons zu packen und sorgsam aufzuheben, als kuriose kleine Mahnmale, denn auf ihre Art waren sie wirklich denkwürdig. Anjas etwas läppischer Kalender nahm sich noch verhältnismäßig gut aus gegen die Kerze in Apfelform mit Apfelduft von Beate, eine Idee, die ihr Gehirn nicht halb so strapaziert haben dürfte wie mein ästhetisches Empfinden. Das Schärfste war eigentlich das gemeinsame Geschenk von Nadine und Christine: ein blaues Teelichtgefäß auf einem blauen Plasteuntersetzer nebst drei blauen Glasperlen, zu einem geschätzten und von Mama bestätigten Preis von zehn Mark. Nicht nur, dass ich jeder von ihnen nicht mehr wert war als ein großes Eis, es ist ja auch so originell, derartig nämlich, dass man dieses edle Objekt ruhig öfter mal als Geschenk zur Anwendung bringen kann, ein Gedanke, der dazu geführt hatte, dass bereits drei dieser Dinger in verschiedenen Farbausführungen bei mir zu Hause Staub fingen. Es hätte der Beginn einer wunderbaren Sammlung werden können. Der Satz bei der Übergabe:»Es ist nicht viel, aber es kommt von Herzen!«brachte mich ziemlich in die Bredouille, denn ich wusste nicht, ob ich erst lachen und mich dann erbrechen sollte oder umgekehrt.