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Die größte Ernüchterung bescherte mir allerdings Susanne, von der ich doch immerhin etwas mehr Stil erwartet hätte, wenn schon nicht mehr Ehrlichkeit. Neben einem Paar Socken von ERNSTING’S FAMILY schenkte sie mir ein Buch von Ingrid Noll, DIE HÄUPTER MEINER LIEBEN. Nicht lange vorher war Ingrid Noll Gegenstand einer Pausenunterhaltung zwischen uns gewesen, die eindeutig, aber offenbar einseitig zu der Erkenntnis geführt hatte: Ingrid Noll und ihre Erzeugnisse bilden exemplarisch die Wasserscheide in unserer Freundschaft und ein unüberwindliches Sympathiehindernis für mich. Was aber diesem kaum mehr zu überschauenden Höhenzug zwischen uns noch einen zusätzlichen Kamm aufsetzte, war die Tatsache, dass besagtes Buch zahlreiche Kniffe und Rillen auf seinem Rücken aufwies und somit nicht mehr ganz taufrisch sein konnte, sondern schon eine Weile in Susannes Bücherschrank zugebracht haben musste, und nicht nur das. In dieser späten Vormittagsstunde hatte ich nicht wenig Lust, die Häupter meiner lieben Freundinnen über den verklebten Laminatboden rollen zu sehen.

Kurz vor Susannes achtzehntem Geburtstag dieses Jahr verfestigte sich in mir die Idee, ihr ein neues Buch und ein getragenes Paar Socken zu schenken. Aber dann war sie gar nicht da, sondern mit ihren Eltern nach Venedig gefahren, und später hat sie die Feier auch nicht nachgeholt, und wenn doch, so war ich jedenfalls nicht eingeladen.

Ich habe keine Ahnung, wen ich zu meinem achtzehnten Geburtstag einladen soll.

Auf Ellas Schreibtisch liegen verstreute Blätter, Zeichnungen, stimmt, das kann sie. In der Schule hängen ein paar Bilder von ihr an den Flurwänden, die nie einer anguckt. Und obwohl ihr da keiner das Wasser reichen kann und sich die anderen Exponate aus dem Kunstunterricht wie Kinderkrakeleien ausnehmen, treibt es wohl auch in diesem Fach — man kann ja nicht abschreiben — die anderen nicht gerade zu ihr. Wieso eigentlich, was ist falsch an ihr, ich weiß das selbst nicht mehr so genau. Wie sie jetzt so mit dem Kuchen reinkommt, denk ich, es könnte sie doch einer heiraten, bald. Sie sieht auf einmal sehr erwachsen aus. Wie eine echte Frau.

«Paul ist da«, sagt sie, ich merke, wie sie sich freut. Ich lausche seinen Schritten auf der glatten Treppe, und jeder Schritt löst ein kleines Ziehen in meinem Magen aus, das mir sagt, dass ich kein Stück von Ellas Kuchen runterkriegen werde. Hast du ihn auch vom Fenster aus gesehen, will ich fragen, verkneife es mir aber und nehme mir ein Stück Kuchen.

Paul kommt rein, wir sagen» hallo «und» na«, ich bin wieder mal von den Socken, er sieht wirklich aus wie … Als wir am Sonntag mit ihm in Anklam waren, ihm die Stadt gezeigt haben, das heißt die paar Ecken, bei denen man zumindest nicht sofort vor Scham im Boden versinken möchte, hatte ich förmlich erwartet, dass uns alle Leute hinterhergucken würden, fassungslos. Aber es war nur wie immer: ausgestorben. Außer ein paar rumlungernden Nazis, dreieinhalb Rentnerpaaren und einem Togolesen auf einem Fahrrad gab es kein sichtbares Leben, und ob es noch irgendwo verborgenes gab, zum Beispiel in den» Arbeiterschließfächern «rund um den Markt, wo es doch auch gar keine Arbeiter mehr gibt, war mehr als zweifelhaft. Wir gingen ins SANSI-BAR, das einzige Café am Ort, Paul guckte das Schild an und grinste. Der Schöpfer dieses Namens gehört wirklich bestraft, mehr aber noch der des EISBECHERS SANSI-BAR, und sollte mich nicht wundern, wenn es sich dabei um denselben handelt. Ich konnte Paul nur dringend von einer Bestellung dieses blauorangenen krokantkontaminierten Ekelpaketes abraten. Und auch noch die drei verbliebenen Möglichkeiten ausführlich diskutieren, denn bis die schlappe Bedienung auftauchte, verging eine gute Viertelstunde. Und ungefähr das Doppelte, bis wir das, was das Servierfräulein mit hochgezogenen Augenbrauen notierte, als erdreisteten wir uns gerade, das Allerausgefallenste aus den antipodischen Gebieten zu ordern, endlich vor uns stehen hatten. Wahrscheinlich können sie nur den EISBECHER SANSI-BAR.

«Probier mal den Kuchen, sehr lecker«, sage ich hastig und übermütig zu Paul. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dass mich jemand länger als eine Zehntelsekunde direkt anguckt. Also wie in aller Welt soll ich normal dabei bleiben? Was man in der Schule lernt, lernt man für die Schule.

«Ist ein Rezept von meiner Oma«, sagt Ella und rollt mit den Augen.»Das ist das Gute an ihr. Aber die macht mich verrückt!«Sie lacht.»Großeltern! Komische Erfindung. Sei froh, dass du keine hast.«

Das sagt sie tatsächlich. Ist nun wohl wieder typisch Ella, gedankenlos. Dabei weiß sie Bescheid über meine sogenannten Großeltern, wie alle. Sie kennt die Geschichten. Den Klatsch und die Wahrheit über das Elend, den Suff, und wie sie daran krepierten, erst sie, dann er. Sie war so besoffen, sie hat ihre eigene Tochter nicht erkannt in Anklam auf der Straße. Mama ist an ihr vorbeigegangen und hat sich die Augen ausgeheult. Er hat sie geschlagen, verkloppt, regelmäßig, sie blieb Tage im Bett. Er hat seine Söhne aufeinander gehetzt wie beim Hahnenkampf und lachend zugeguckt und mal den einen, mal den anderen angefeuert. Er war Hermann, Manni, Der Olle, sie Edeltraud, Traudel. Er hatte einen Tumor im Kopf und die Schuld an den Hacken. Die Worte wollten nicht mehr aus seiner Kehle heraus. Das weiß Ella nun vielleicht nicht. Ihr Mundwinkel zuckt ganz unbefangen, tatsächlich, und ich bewundere sie ein bisschen dafür.

Plötzlich fragt Paul, mit Krümeln an seinem McCartney-Mund:»Was für Häuser sind das? Ich meine, die mit die kaputten Fenster, ein paar sehen aus wie … wie für Tiere, Kühe, und die anderen? Sie sind alle verlassen, oder? Aber es gibt immer Geräusche, da sind Leute, abends, Jugendliche, glaube ich. Ihr kennt sie?«

Ella hat sofort aufgehört zu grinsen. Ich seufze.»Das ist die Elpe.«

«Was?«, fragt Paul, natürlich. Ich kann nicht sagen, dass ich es direkt befürchtet hatte. Ich meine, dass er danach fragt, nach der Elpe. Aber jetzt, wo es so weit ist, kommt es mir fast vor, als hätte ich drauf gewartet, auf eine etwas perverse Art. Ich empfinde die Erleichterung derer, die sich letztlich in ihr Schicksal ergeben. Und ich mag dieses Gefühl, ich merke, dass ich es auf eine fatale Weise suche: mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Es wäre so viel sinnloser und ermüdender gewesen, die ganze Zeit darauf zu hoffen, dass sie ihm entginge, die Elpe. Was für ein beknackter Name im Grunde. Ich seufze noch einmal. Wie soll man das erklären? Es ist etwas, das es wohl nur hier geben kann. Wo dei Lüü dat Muul nich upkräägn. Es ist die Abkürzung einer Abkürzung.

«Die Elpe«, sage ich.»Das sagen die hier so, die Jugendlichen, und inzwischen wahrscheinlich das ganze Dorf. Es kommt von ›LPG‹, und das heißt: ›Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft‹. Das war eine Art staatlicher Landwirtschaftsbetrieb zu DDR-Zeiten, das gabs überall, in jedem Dorf. Erst mussten nach dem Krieg die Großgrundbesitzer und Nazis ihr Land abgeben an die Landarbeiter und kleinen Bauern, das wurde aufgeteilt, und ich glaub, sogar verlost, und das nannte sich Bodenreform, und dann mussten die Bauern ihr Land wieder zusammenlegen, und das nannte sich dann LPG, und es wurde gemeinsam bewirtschaftet, so dass alle das Gleiche davon hatten, nämlich alle nichts. So ungefähr, genauer weiß ich das auch nicht.«