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Der Tisch steht noch in der Küche, und du bist dir sicher, dass er während all der Jahre hier gestanden hat, und dass du morgen, wenn Peter ihn abholt, die vier Eckpunkte eines Quadrats auf den Dielen finden wirst, kleine, aber deutliche Abdrücke, wie man sie manchmal bei Toten zu beiden Seiten der Nasenwurzel sieht oder an den Fingern. Die Spuren der Dinge, denen stets die Rolle der Überlebenden zufällt. Sie müssen so tun, als würden sie noch gebraucht. Anderweitig.

Die Stühle sind schon weg. Peter hat sie in seinen kleinen Firmentransporter geladen und sie in irgendein Obdachlosen- oder Asylbewerberheim in Neubrandenburg gebracht. Er selber brauche sie nicht, und sie hätten ja nun auch keinen besonderen Wert, und warum nicht anderen damit helfen, nicht wahr. Du bist dir nicht sicher, ob er das Wort ›gemeinnützig‹ gebraucht hat, es kommt dir unwahrscheinlich vor. Du denkst daran, wie dieses Wort früher über seine Zunge geholpert wäre. Du hast genickt. Als er vorgefahren war, hast du auf der Seite des Autos in großer blauer Schrift und Anführungszeichen lesen können: NIX WIE WEG. Darunter, kleiner: SCHÄDLINGSBEKÄMPFUNG, SCHIMMEL- UND SCHWAMMSANIERUNG, PETER HANSKE, Adresse, Telefonnummer. Du glaubtest erst, du hättest dich verlesen, denn was sollte das bedeuten. Natürlich wusstest du, dass Peter diesen Beruf hat: Kammerjäger. Warum, aus welchem vermutlich ganz plausiblen Grunde, interessierte dich gar nicht. Du hattest dich gewundert, ja, aber im Grunde hatte es wohl nie ganz den Tatsachen entsprochen, Peter für unpraktischer zu halten als dich selbst, oder Anna Hanske, die ja immerhin doch auch und vor allem Peters Mutter war. Das wirklich Seltsame war nur dieser Slogan. NIX WIE WEG. Wer hatte sich das ausgedacht? Peter war originell, gewiss. Aber auch genau, besonders mit Worten. Wie hatte er denn nicht merken können, dass dieser Spruch nicht witzig ist, jedenfalls nichts mit der dir bekannten Witzigkeit Peters zu tun hat, dass er nicht, wirklich ganz und gar nicht zu einer Schädlingsbekämpfungsfirma passt, ja, böswillig und richtig verstanden, die ganze Dienstleistung nicht nur dubios erscheinen lässt, sondern ad absurdum führt, und, das fiel dir fast als Erstes und Entscheidendes auf, dass er erst recht nicht zu Peter passt. Peter und NIX WIE WEG! Wenn einer überhaupt anwesend war, die ganze Zeit gewesen war und für jeden, dann er. After all war er ja doch noch ein nützliches, beinah unentbehrliches Mitglied der Gesellschaft geworden, der Stotter-Peter, nachdem er erst mal das Stottern sein gelassen hatte. Und da war noch etwas, das mochtest du aber nicht zugeben. Das andere hast du ärgerlich und lachend Michael erzählt. Das nicht. Na, sags schon: Du fühltest dich enteignet. Beklaut. Lächerlich gemacht und beklaut und genau dadurch lächerlich gemacht. Von deinem eigenen Bruder.

Die Male, die er hier war, dir beim Aufräumen, Ordnen, Ausräumen geholfen hat, machten dich ratlos. Noch immer kennt er sich mit allem besser aus als du. Aber das ist es natürlich nicht. Das ist das Beruhigende. Du weißt nicht, was es ist, nur, dass du wie als Kind keinen Namen für das hast und auch nicht haben willst, was vielleicht noch nicht mal die Bezeichnung ›Gefühl‹ verdient. Du fragst dich, albern, aber eventuell aufschlussreich, ob Peter irgendwo einen Zwillingsbruder aufgetrieben habe. Und er selbst wäre weg, weit weg, vielleicht nicht gerade in» Jenseits«, aber doch weit genug, und nur der Firmenwahlspruch wäre als letzter und schließlich doch noch ganz witziger Hinweis auf ihn geblieben. Und du hättest es jetzt mit diesem Zwillingsbruder zu tun, der, ebenfalls als Flüchtlingskind, aber ganz woanders, aufgewachsen wäre, etwas geordneter, etwas akzeptierter, kein Stotterer, und trotzdem, wie die Zwillingsforschung herausgefunden hat, in wesentlichen Zügen mit Peter übereinstimmen müsste, und wie solltest du, nach mehr als zwanzig Jahren, da überhaupt einen Unterschied merken. Aber du hast ihn bemerkt.

Peter hat zu dir gesagt, wenn dir während der Tage, die du in diesem Haus seist, irgendetwas auffiele, solltest du ihm Bescheid sagen, er würde dann» anrücken«.

«Was denn?«, hast du gefragt.

«Na, Ungeziefer, Schimmel, du weißt schon. «Er hat gelächelt, als wäre ihm irgendetwas peinlich.

«Mutter «habe das ja nie gewollt, dass er mal alles» auf Vordermann «bringe, das könntest du dir ja denken, was sie davon gehalten habe, von» der ganzen Chemie«. Das konntest du. Daneben auch, dass sie ihren Sohn nicht in dem roten Overall hatte sehen wollen, mit der Schutzmaske vorm Gesicht, mit der Giftspritze in der Hand, mit diesem Beruf.

Du hoffst, dass Peter morgen vor» dem «kommt, dass der Tisch dann weg ist. Er passt zu gut hierher, etwas anderes als dieser Tisch ist an der Stelle nicht denkbar, und du hast Angst, das dies auch» der «finden und also nicht nur das Haus, sondern auch noch den Tisch mit kaufen wollen könnte, um ihn genau hier stehen zu lassen, und das willst du nicht. Es ist kompliziert, aber wohl ungefähr so: Du würdest darauf reagieren wie auf den frevelhaften Wunsch von jemandem, in einem Museum wohnen zu wollen. Nur eben umgekehrt. So wenig, wie du es guthießest, wenn einer allein mehr von dem Museum hätte als alle anderen, sowenig behagte es dir, wenn alle anderen, und das sind in diesem Fall alle außer dir, mehr, und anderes, von diesem Museum hätten als du. Damit bist du noch nicht diejenige, die im Museum wohnen will. Du willst es ja gerade nicht. Aber was soll unter diesen Bedingungen dann noch für die anderen bleiben? Vielleicht ist es doch einfacher, als du wahrhaben willst.

Es gibt nichts mehr zu tun, dein Frösteln, der Schreck vorhin waren umsonst. Als ihr letzte Woche ankamt, Peter euch die Tür aufschloss und sofort anbot, Kaffee zu kochen, hättest du gerne gesagt, das sei nicht nötig. Er könne ruhig nach Hause fahren, seine Frau warte doch bestimmt. Du wolltest allein sein, Michael und Paul hättest du am liebsten vor die Tür gejagt, seht euch doch erst mal ein bisschen um. Das ging natürlich nicht. Aber es ging doch auch nicht, dass sie hier alle zusammensaßen, in einer Art Überlappung von Mengen, von Parallelwelten, mit dir als beiden gleichermaßen zugehörigem Element, und beide schienen dir aufzulauern, eine deutbare Reaktion zu verlangen, waren gespannt, wie du deine zwiefache Zugehörigkeit — na: welchen Eiertanz du zwischen den Welten aufführen würdest. Und was das für Eier waren, die es nicht zu zerbrechen galt.

Du hattest vorher vorsichtig mit Peter darüber gesprochen, am Telefon, und niemand außer euch hätte dieses abgehackte, nur aus Anläufen, Rückziehern, Andeutungen bestehende Gespräch interpretieren können, kein interpreter es verdolmetschen, trotzdem hattest du das Gefühl, plötzlich, wie in einem Moment übergroßer Erschöpfung, alles zu gestehen. Paradox, denn Peter war der Einzige, außer deiner nunmehr endgültig schweigsamen Mutter, der ja bereits alles wusste. Aber es scheint beinah die größere Befriedigung darin zu liegen, demjenigen eine Schuld zu offenbaren, der um diese Schuld schon weiß und für den sie keine Offenbarung darstellt. Man muss nicht erst diese lästige Fremdheit überwinden. Die, die ein Informationsgefälle zwischen zwei Menschen notwendigerweise hervorruft und die im Aufklärungsmoment und den überraschten Augen des anderen zu einer unerträglichen Konzentration ansteigt. Nur durch sie sind eigentliche Geständnisse so schwer, und so selten.

Du hattest Peter also gebeten, ein Schweigen zu bewahren, und warum, hat er sich denken können, nicht mal das musstest du gestehen. Trotzdem legte sich schon auf der Autofahrt von Berlin nach Bresekow eine klamme Furcht um dich, und als ihr dann zusammen in der Küche saßt, hatte sie dich fest eingehüllt und war dir zuwider wie kaltnasse Wadenwickel um den fiebernden, wehrlosen Körper. Du brachtest zunächst kein Wort heraus, aus Angst, genau dieses könnte das falsche sein, der Stein zu viel auf dem mühsam errichteten Turm. Was wolltest du in dieser Höhe? Jeder Blick hinunter machte dich schwindeln, also vermiedst du ihn, aber jetzt stand unten Peter und wusste nicht, ob er rufen durfte, und blickte beständig hinauf und du hinunter. Und ihr hattet Schwierigkeiten, euch überhaupt zu erkennen.