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Peter füllte einen alten Pfeifkessel mit Wasser und stellte ihn auf den Gasherd. Du hättest behaupten können, den Kessel wiederzuerkennen, aber es war wohl doch nicht mehr derselbe, wenn er auch nicht viel jüngeren Datums sein konnte. Du starrtest in die blaue Flamme, die ganz anders blau war als die Flammen der Herde in Berlin, in Norwich, in Dublin, auch in Kinsale, wärmer würdest du sagen, wenn man dir nicht beigebracht hätte, dass Blau eine kalte Farbe sei. Propangasblau. Die Flamme machte dir klar, dass du zu Hause bist. Sie behauptete es nicht nur, wie alles andere. ›Zu Hause‹ hatte hier aber nichts mit Nestwärme, mit Heimat und Gemütlichkeit zu tun. Es war nur ein Fakt, wie der, dass ein Gegenstand an einem gespannten Gummiband mit desto mehr Wucht an seinen Ausgangspunkt zurückschnellt, je stärker man es ausgedehnt hat, und du konntest nur hoffen, dass du nicht noch über diesen Ausgangspunkt hinausschießen würdest, in eine Art negativen Bereich. Falls das nicht ohnehin unvermeidlich, längst schon geschehen war.

Es störte dich sofort, wie Peter den Hausverwalter spielte, wie er eifrig, und, wie dir schien, ein wenig zittrig die Schränke auf- und zuklappte, mit den Tassen hantierte, wie er euch fragte, ob ihr erst mal das Haus sehen wolltet. Du konntest dich nicht beherrschen, ihn fragend anzusehen, und es war eine Frage, auf die er offenbar keine Antwort wusste. Die er vielleicht kaum verstand, so wie du ihn kaum verstehen kannst, in dieser Sprache, die er jetzt fließend spricht. Die hattest du nicht gemeint, damals. Aber wie hätte er sich sonst verhalten sollen? Es ließ sich doch nicht so tun als ob, nämlich als ob nichts, es ließ sich doch nicht das Jahr Dreiundsiebzig an das Jahr Neunundneunzig Kante an Kante anlegen, und alles dazwischen verschwände in der Dunkelheit einer überdimensionalen Kellerfalte, eine Kalenderreform sondergleichen. Im Grunde konntest du froh sein, überhaupt so behandelt zu werden: wie unerwarteter, etwas schwieriger Besuch.

Wie zu Besuch spürtest du auch gleich einem zu engen Sonntagsschuh die dumme Verpflichtung drücken, etwas sagen zu müssen, als Peter euch zu den einzelnen Zimmern führte, Worte wie ›schön‹, ›interessant‹, zumindest ›aha‹, aber der Mund war dir wie zugenäht, bis dir aufging, dass dies die Gelegenheit gewesen wäre, diese Worte endlich in ihrer ganzen erpressten Verlogenheit auszustellen, und da warst du beinahe so weit, sie zu sagen. Aber auf einmal tat Peter dir leid. Wie er versuchte zu lächeln, als er sagte, ihr hättet die Auswahl, Betten gebe es in diesem Haus noch immer mehr als genug, und wie das Lächeln dann ins Stottern geriet: du und dein Mann, ihr müsstet nicht in dem Ehebett schlafen, auch das Sofa im Wohnzimmer sei sehr bequem. Nur, falls es euch, falls ihr das nicht wolltet.

«Ist sie darin gestorben?«, hat Michael dich hinterher gefragt.

«Ja«, hast du gesagt.»Nun stell dich nicht so an, was ist denn dabei. Ich nehme ihre Seite.«

Ganz geheuer war dir das zwar auch nicht. Doch das hatte mit etwas anderem zu tun. Viel mehr als die unwiderrufliche Abwesenheit deiner Mutter rief dieses Bett eine andere in dir auf, die so lange, fast Zeit deines Lebens, eine Abwesenheit gewesen war, dass eine Anwesenheit, von der sie ja immerhin mal ausgegangen sein musste, deiner Vorstellung gar nicht mehr gelang. Die deines Vaters. Gleichwohl schien seinem Fortsein nie etwas Definitives innezuwohnen, offenbar nicht einmal für deine Mutter, die sonst alles Überflüssige so schnell wie möglich aus dem Haus zu schaffen trachtete. Das kurze, streng begrenzte Doppelbett blieb, auch nach seinem Tod. Jene Nachricht hatte keine Konsequenzen, sollte das Leben mit seiner Abwesenheit nicht wesentlich verändern. Nicht ihres.

Und dieser Egoismus ließ einen Groll in dir wachsen. Obwohl du schon damals eingesehen hättest, wäre dir Zeit zum Nachdenken geblieben, dass das Bett bleiben musste, und du hättest dich geschämt, wäre es da plötzlich fortgeschafft worden. Es wäre ja ein einziges Eingeständnis gewesen. Das Eingeständnis einer zwei Jahrzehnte währenden Hoffnung. Und wahrscheinlich hattest du dir die auch bloß eingebildet.

Du wusstest, dass Michael und du nicht recht hineinpassen würdet. Und als du in der ersten Nacht mit angezogenen Beinen dalagst und nicht einschlafen konntest und die Dunkelheit eine lange vergessene Vollkommenheit erreicht hatte, dachtest du darüber nach, dass dein unsichtbarer Vater wie ein Gott, wenn auch einer, an den du nicht glaubtest, über dein Leben gewaltet hatte. Du warst der Beweis für seine fast zur Sage gewordene kurze Anwesenheit. Ohne sie wärst du nicht hier gewesen. Und ohne seine nicht minder entscheidende, dir im Grunde wichtiger erscheinende Abwesenheit wärst du jetzt nicht wieder hier. Sondern immer noch.

Du wurdest nicht warm unter dem schweren, klammen Deckbett. Uralte Federklumpen drückten dich in das Laken, dass du dich kaum zu bewegen wagtest. Du hättest dich gern an Michaels Rücken gedrängt. Aber du warst froh, dass er überhaupt schlief. Auf einmal konntest du dir vorstellen, dass Anna Hanske in diesem Bett, eng wie ein Sarg, kühl wie der Herbst, gestorben war, auf genau diesem Platz. Es machte dir nichts aus. Du konntest das Etepetete der Leute in diesen Angelegenheiten nicht verstehen. Als ob der Tod etwas Ansteckendes wäre. Als ob er einem nicht ohnehin das ganze Leben lang in den Knochen steckte.

Du warst überrascht, aber erleichtert, das Haus von Erna Mehling wieder bewohnt zu finden, Gardinen vor den Fenstern, Astern im Vorgarten, offensichtliche, vielleicht offensive Normalität. Es war ja auch normal. Doch du weißt genau, dass die Leute dort mit einem gewohnheitsmäßigen Schauern vorbeigehen, sich flüsternd darauf hinweisen, heimliche Fingerzeige. Und sie zeigen in eine Richtung, in der recht deutlich du wahrzunehmen bist, entfernt, aber unverkennbar. Du selbst siehst dich natürlich dort nicht. Was bilden die sich denn ein? Was hast denn du damit, sie können doch dich nicht. Du warst doch gar nicht da.

Nicht hier, in diesem kaum hundert Meter entfernten, viel zu nahen Haus. Es war von einer Aufgeräumtheit, die dich befremdete, und beruhigte. Diese Ordnung hatte nichts mit der Klarheit Anna Hanskes gemein, sie ähnelte ihr nur auf eine dilettantische, durchsichtige Weise, doch Peter dahinter zu vermuten, erschien dir ebenso abwegig. Vielleicht sahst du alles falsch. Jedenfalls gab es kaum etwas zu tun. Kein großes Ausmisten. Das musst du dann doch von ihr haben. Diese fanatische Lust an der Entrümpelung, von einem Augenblick auf den anderen Dinge anders anzusehen, nämlich als Müll und Mühlstein, lästig und unbrauchbar, und weg damit. Aus den Augen und so weiter. Und trotz der vordergründigen Nützlichkeit und vorgeblichen Schaffenskraft liegt eine destruktive Energie darin, die dir die eigentliche Lust beschert und die dir geholfen hat, den Kuhstall zu überstehen. Das Ausmisten war die einzige Arbeit, die dir Spaß machte, du hast sie zum Erstaunen und Gelächter aller freiwillig übernommen, sie haben sich halb totgelacht, als du die Forke schwangst, und sind in Deckung gegangen. Vielleicht ist ein Derivat dieser Energie auf Peter übergegangen. Aber du hast es mehr geerbt als gelernt, denn einer Anerziehung hättest du dich widersetzt. Sie hat das gewusst und es gar nicht erst versucht. Aber nicht aus etwaiger Furcht vor dir. Eher aus — Respekt. Im Übrigen war sie gegen dieses Formen nach dem eigenen Bilde. Und vielleicht war sie stolz darauf, dass sie dir auch das nicht beibringen musste. Denn das wuchs dir in Fleisch und Blut: Nie wolltest du, dass etwas, einer so sei wie du. Es reichte ja, wenn du so warst. Schon das schien oft zu viel. Du hättest dich oft gern selbst mit ausgemistet. Which didn’t work. At all. Das wäre ja etwas wie der sich selbst reinigende Besen gewesen. Und an so eine Erfindung war nicht zu denken.

Später, in Westberlin, hat man aber versucht, dir einen abartigen Ersatz als genau das unterzujubeln. Du hattest den Zettel mit der Adresse von einer Bekannten und zwirbeltest in der Enge deiner Jackentasche kleine Stückchen davon ab, als du die aufgeschriebene Straße in Charlottenburg entlanggingst und den Hausnummern nachschautest wie abgerupften, zur Erde taumelnden Blütenblättern. Und wie früher wolltest du nicht ganz verstehen, warum ausgerechnet das letzte die Wahrheit verkünden sollte; du glaubtest es nicht, du zwangst dich dazu, es erregte dich.