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Man müsse der Wahrheit ins Auge sehen, hatte Vicky zu dir gesagt, wenn das so weiterginge, würdest du früher oder später» in der Geschlossenen landen«. Du warst dir nicht ganz sicher, was sie zu diesem Schluss hatte kommen lassen. Sie war Schauspielerin und nebenbei Sängerin oder umgekehrt, du wusstest es nicht genau, dieser Mädchenzukunftstraum, noch dazu in seiner im Grunde noch lächerlicheren Verwirklichung, hatte dich nie interessiert, und sie auch nicht besonders. Aber sie kam oft in diese Kneipe, in der du gearbeitet hast, und mit der Zeit hast du ihr einiges erzählt. Du hattest nicht den Eindruck, sie wolle dich aushorchen. Du schienst sie auch nicht besonders zu interessieren. Ihr war einfach langweilig, und das kanntest du. Neu war dir, dass diese Langeweile etwas Verbindendes sein konnte. Einmal sagte sie:»Glaub bloß nicht, ich bin eine von denen!«, und du hast erst gar nicht gewusst, was sie meint, warst aber sofort ein bisschen enttäuscht. Dann, als du es zu wissen glaubtest, wich die Enttäuschung zunächst einer kleinen Scham: sie auf so einen Satz gebracht zu haben. Sahst du etwa aus wie» eine von denen«? Es war aber etwas anderes: Für Vicky sahst du aus wie eine aus unvorstellbar tiefer Provinz. Vielleicht wusste sie schon, dass ihre provinziellen Vorstellungen vom Großstadtleben kaum zutrafen. Aber du hattest ja noch nicht mal diese Vorstellungen. Dir konnte man viel erzählen. Vermutlich wirktest du beeindruckbar.

Trotzdem kehrte die Enttäuschung wieder, aber als eine strenger, leicht verdorben schmeckende, wie über eine verpasste Gelegenheit, von der man im Nachhinein erfährt, dass man nie die leiseste Chance hatte, sie nicht zu verpassen. Nicht, dass du dir viel davon versprochen hättest. Aber es wäre immerhin mal etwas anderes gewesen als die aus deinem Bett purzelnden Männer; manchmal war dir, als wäre da ein unaufhörliches Purzeln aus deinem Bett, und du warst versucht, dich zu bücken und nachzusehen, dir die Bescherung unter deinem Bett anzusehen und dir eine Schippe zu schnappen und diesen ganzen Haufen aus verstreuten Männerteilen, bestimmten Armen, Schwänzen, Mündern, Haupt- und Schamhaaren aufzuschippen und aus deinem Mansardenfenster auf die Straße zwischen die Hundescheiße zu schütten. Aber am Ende wären sie doch nur in der Dachrinne hängen geblieben wie die tote Taube, die eine Zeitlang alles verstopfte. Dir war aufgefallen, dass sie so gut wie keine Füße mehr hatte, und du fragtest dich, ob sie daran gestorben war.

Dem sogenannten Psychologen erzähltest du einiges, mehr Vicky zuliebe, und nicht mal so viel wie ihr, aber es genügte, um dich in seinem Blick als einen schweren Fall zu erkennen. Ab da fiel es dir leicht. Deine Geschichte erschien dir ganz unterhaltsam, ein bisschen schäbig und zweitklassig, wie irgendeine, die du heimlich gelesen hattest, nicht gerade Schullektüre. Du machtest ein bisschen auf Spannung.

Die Zwischenfragen des Psychologen störten dich zuerst, aber du beantwortetest sie alle geduldig, obwohl du wusstest, dass auch er eine von Vickys Vorstellungen bildete. Aber du warst immer noch weltfremd. Immerhin gab er dir die Möglichkeit, dem Klang von Worten zu lauschen, die du lange nicht, und wenn, dann auch nur selten, ausgesprochen hattest. Diese Worte rührten dich. Du weintest eigentlich nicht zu der Zeit, aber im Zimmer des Psychologen, das dir stets wie freischwebend, umgebungslos vorkam, sobald du eingetreten warst und die Tür hinter dir zugezogen hattest, passierte es dir manchmal. ›Passieren‹ war da schon das falsche Wort, du nahmst die Übergänge kaum wahr. Gesichtshaut, die plötzlich nass ist und wieder abtrocknet. Ein Weinen mehr wie beim Zwiebelschneiden, und ohne das Brennen in den Augen.

«Reden ist der erste Schritt«, hatte der Psychologe gesagt. Und du redetest, bis dir einfiel, dass du diesen Satz kanntest. Den von Einsicht und Besserung, und das eine war auch so ein erster Schritt. Wolltest du Besserung? Vielleicht. Aber keine Einsicht. Und fast mehr in diesem Sinne: Später, als du hörtest, dass man» seine Akten «anfordern könne, um» Einsicht «in sie zu nehmen, fiel dir gar nicht ein, das etwa auch zu tun. Du warst dir sicher, dass es über dich keine Akten gab. Du hörtest auf mit dem Reden.

In deine plötzliche Verdunkelung schoss der Psychologe eine Leuchtrakete:»Sie sind sexuell traumatisiert.«

Du hörtest harte Töne aus dir herauskommen. Es muss ein Lachen gewesen sein. Du sagtest ihm, dass du ihn nicht länger für Unsinn bezahlen wolltest. Nichts fiele dir so leicht, wie mit Männern ins Bett zu gehen.

Da lebtest du knapp zwei Jahre in Berlin und hattest ein wenig den Überblick verloren. Die Pille war wichtig, sonst nichts. Die Namen der Männer merktest du dir nicht, zumindest versuchtest du es.

Du sagtest das unwahrscheinliche Wort ›bumsen‹. Es war eine gute Gelegenheit. Das Bumsen sei ja das Einzige, was dich entspanne, überhaupt normal bleiben ließe.»Normal «sagtest du aus Provokation. Der Psychologe nickte. Du nicktest auch, als fändest auch du alle deine Vermutungen bestätigt. Du fragtest dich, ob er mit dir ins Bett gehen wolle, ficken sozusagen. Ein leichter Ärger überkam dich, als du dir sagen musstest, dass das nicht der Fall sei. Du murmeltest ein» fuck you«, als du die Tür öffnetest und das Zimmer damit wieder in ein Haus in einer Straße einsetztest.»Fuck you «hattest du von Vicky gelernt. Es schien dir ungefähr zu passen. Der Psychologe fragte dich, ob du was gesagt hättest. Du drehtest dich um und lächeltest ihn zum ersten Mal an. Du schütteltest den Kopf.

Kurz darauf kündigtest du in der Kneipe. Es ging dir gut. Jedenfalls nicht schlechter als anderen, und du hattest doch einiges gesehen. Dir konnte man nichts mehr erzählen. Die Männer erzählten dir alles. Einer hat dich im Suff geschlagen, du hast zurückgeschlagen, und da hat er sofort aufgehört. Einer hat dich gefragt, warum du kein Geld nimmst. Er war freundlich.»Wer sagt, dass ich keins nehme?«, hast du gefragt, aber das hat er dir nicht abgenommen. Morgens, als er weg war, hast du fünfundvierzig Mark neben deinem Kopfkissen gefunden. Du warst nicht beleidigt. Du hast dir eine Jacke gekauft.

Der neue Job im Café gefiel dir. Du mochtest die Studenten. An die freien Abende musstest du dich erst wieder gewöhnen. Ab und zu gingst du in den Nachtclub, in dem Vicky mit ihrer Band auftrat. Die Band war furchtbar, so ein Urteil glaubtest du dir inzwischen erlauben zu dürfen, und Vicky war auch furchtbar, aber sie hatte eine gute Stimme. Ihre Stimme war sicher wie eine Stahltür. Warum ließ sie die offen stehen? Im Nachtclub sagtest du nie hallo zu ihr. Ihr traft euch nicht mehr. Einmal sahst du sie im hellen Mittagslicht, wie sie versuchte, eine viel befahrene Straße zu überqueren, und ihre Versuche immer wieder abbrechen musste und schließlich aufgab und weiterging. Du weißt noch, dass du dich fragtest, ob sie es jemals schaffen würde, die Straße zu überqueren, und was, wenn nicht. So sieht eine Frau aus, die sich sagen lässt, dass sie Depressionen hat, zwangst du dich zu denken. Du wolltest dir nichts sagen lassen.

Auf die Idee mit der Abendschule kamst du selbst. Du musstest aber erst drauf kommen, dass nicht die Schule das Unerträgliche gewesen war. Dass diese Abendschule nur entfernt verwandt war mit der Schule in Schmalditz, mit der EOS in Anklam. Dass es diese Orte gar nicht mehr gab. Dass es eigentlich gar keine Schule sein würde.

Es fiel dir nicht leicht. Aus der freiwilligen Beschäftigung wurde eine Anstrengung, die nach den acht Stunden im Café deine Abende ausfüllte. Aber sie füllte sie aus, das war schon etwas. Du dachtest an die Studenten im Café. DU HAST JA EIN ZIEL VOR DEN AUGEN. Das war neu. Das hatten sie all die Jahre nicht geschafft. Du wolltest neu sein.