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Und möglichst allein. Du wolltest sogar wieder allein ins Bett gehen können. Nach einem viertel Jahr Abendschule war es so weit. In deiner Klasse gefiel dir keiner, und offenbar gefielst auch du keinem. Das war gut, das musstest du dir nicht mehr sagen. Du spürtest in jeder Faser, dass du sofort alles hinschmeißen würdest, wenn irgendwas dich aus dem Tritt brächte, dem Rhythmus aus hastigen, fettfleckigen, oft unterbrochenen Hausaufgaben während der Stunden im Café und den langwierigen abendlichen Kämpfen mit Zahlen, Begriffen, Vokabeln, die immer aufmüpfigere Verbindungen gegen die Ordnung der Hefte eingingen, je näher du dem Einnicken warst.

Zwei Jahre hattest du nichts. Du fühltest dich absolut trocken, deine Haut kam dir staubig vor. Beim Abschlussfest trankst du mit jedem auf dein Zweikommaeins-Abi. Du gingst mit dem weichen Klaus aufs Klo, später mit Roland. Roland gabst dus richtig. Seine Lippen waren so spröde, dass sie aufrissen, als du mit deinem Nagel drüberfuhrst. Er wollte dich küssen, aber du drücktest ihn weg, und er plumpste auf den Klodeckel. Du starrtest auf seine Hose und er zog sie sofort aus. Roland gehorchte. Seinen Schwanz zwischen den Mahlsteinen deines Gaumens und deiner Zunge keuchte er immer wieder» Ingrid, Mensch, Ingrid!«, aber du machtest unbeirrt weiter, ließt deine Zähne spüren, dass er einen hohen, kehligen Laut von sich gab, und als du merktest, dass er im nächsten Augenblick so weit sein würde, ließt du ab von ihm, entriegeltest die Klotür und gingst rüber zum Waschbecken, um dir den Mund auszuspülen.»Mensch, Ingrid, was …«, rief Roland und fluchte und zog die Klotür wieder zu, und du konntest hören, wie er dein Werk zu Ende brachte. Als er rauskommen wollte, standest du vor der Tür und schubstest ihn zurück in die Kabine, auf den Deckel, öffnetest seine Hose, setztest dich auf ihn und schobst dir seinen noch nicht ganz erschlafften Schwanz rein. Etwas anderes als dein Name fiel ihm auch dieses Mal nicht ein. Erstaunlicherweise wehrte er sich kaum, quiekte nurmehr. Du bereitetest ihm Schmerzen. Schmerzen. Ja. Roland. Es ging leicht, du kamst schnell und zornig und danach versetztest du ihm noch ein paar Stöße und spürtest einen Wurm aus dir herausgleiten, und der Ekel ließ dich flüchten. Er konnte nichts dafür. Aber wenn er nun mal so hieß.

Der Mathelehrer fuhr dich nach Hause. Er fragte, ob du ihm vielleicht einen Kaffee machen könntest.»Fräulein Ingrid. «Nein, sagtest du und fasstest ihm in den Schritt. Sein Mercedes war geräumig genug.

Am nächsten Tag meldetest du dich krank im Café. Man hatte Verständnis. Du bliebst drei Wochen im Bett. Dein Kühlschrank gab nicht viel her, also gingst du einmal in den winzigen Laden an der Ecke, brachtest aber hauptsächlich Kekse mit. Die Wurst war angegammelt, du aßt sie, ohne etwas zu schmecken. Das bisschen Schimmel am Brot würde dich schon nicht umbringen. Und wenn schon. Als du tagsüber nicht mehr schlafen konntest, sahst du nach, wie lange die Schlaftabletten reichen würden. Du schüttetest sie vor dich auf die Matratze und legtest eine weiße Perlenkette daraus. Du hättest sie gern um den Hals gehabt, kühl. Vorsichtig entferntest du eine Perle, stecktest sie dir in den Mund und spültest sie mit der Flüssigkeit hinunter, die sich im Glas auf deinem Nachttisch befand. Es hätte Wodka sein können, aber sicher warst du dir nicht. Die fehlerhafte Kette kam dir unsinnig vor. Du aßt sie auf. Du wusstest, wo der Fehler lag. Sie war nicht lang genug. Aber egal. Nach ungefähr hundert Jahren klingelte das Telefon.

Eine Stimme sprach direkt in deinen Magen hinein, was du angesichts deines Zustandes unhöflich fandest.»Frollein Hanske, ick sag nur, det wart, Sie wissen Bescheid!«

Du versuchtest, noch schnell aufzulegen, bevor du auf das Telefon kotztest. Sowieso, dachtest du. Du warst gestorben, und zwar für jeden. Da sollte der Café-Kröske sich mal nichts einbilden. Du gingst wieder ins Bett. Aber das Bett gehörte zur Wohnung, und die Wohnung gehörte deiner Vermieterin, und die wollte bald vertröstet sein über die bis auf Weiteres ausbleibende Miete. Mehrmals klingelte es, aber du öffnetest nicht. Du fingst an, wieder rauszugehen. Aber nur nachts, und nirgendwohin. Einmal sprach dich ein Mann an, und du nahmst ihn mit, weil du an die Miete dachtest, aber dann sagtest du vor der Haustür zu ihm, es ginge doch nicht. So viel würde er nie rausrücken.»Ick habe Geld dabei«, sagte er empört. Aber nicht genug. Und du wolltest nichts einreißen lassen. Was war jetzt mit diesem Ziel.

Du strichst um dein Ziel herum. Du wolltest nichts, gar nichts, aber die Langeweile machte dir zu schaffen. Du last die wildwuchernden Aushänge, aus Langeweile, eine WG wolltest du erst recht nicht. So einen kleinen, durchorganisierten Puff. BOTANISCHER GARTEN, hieß nicht eine Haltestelle so? HILFSARBEITEN. Vermutlich schlecht bezahlt. Aber das Bild von Pflanzen legte dich nicht sofort lahm, also fuhrst du hin. Dort kamst du dir wieder dumm vor; du warst die erste und einzige Bewerberin, schienst aber nicht sonderlich willkommen zu sein. Vielleicht sahen sie dir etwas an. Vielleicht dasselbe, was du sahst, wenn du zufällig in einen Spiegel gucktest.

Man gab dir eine Aufgabe, das war gut, aber du konntest hören, dass es eine war, vor der man sich besser drückte. Es würde nicht gerade der Kuhstall sein. Es war ein Gewächshaus. Opuntia stand auf den Schildern dieser platten Kakteen. Du musstest fast weinen, sie rührten dich wie Tiere. Stolz und wehrlos, nur einige hatten lange, einzelne Stacheln, die Handschuhe, die man dir gegeben hatte, erschienen dir übertrieben wie eine Waffe. Opuntia hatte abgeblüht und musste umgepflanzt werden. Ihre matte Oberfläche wirkte wie Haut, nur schöner, blaugrün. Du strichst mit der flachen Hand über die kleinen bräunlichen Samtbüschel. Du sahst deinen Fehler sofort ein. Das war ein richtiger, eindeutiger Fehler, dachtest du. So haben Fehler zu sein. Sie müssen sofort weh tun. Winzige, nicht entfernbare Stachelhärchen. Wiederholung unnötig. So was war Liebe. Du warst ihnen nicht böse. Du liebtest sie schon.

Du warst allein. Die ganze Zeit über hatte der Gedanke, kaum jemanden zu kennen in der ganzen halben Stadt, von kaum jemandem gekannt zu werden, mit keinem hier verwandt zu sein und überhaupt schwer erreichbar in dieser Enklave, Exklave, dir große Befriedigung verschafft. Sie steigerte sich zur Euphorie, als du vor dem Sekretariat der Uni mit wohl hundert anderen Leuten darauf wartetest, zur Einschreibung vorgelassen zu werden. Auf einmal fiel dir dein Vater ein, und der Gedanke kränkte dich. Er zerstörte deine Absolutheit. Dein Vater war tot, ja, aber er war hier.

Er befand sich in einer Urne auf dem Städtischen Friedhof Reinickendorf, so viel wusstest du. Du warst nie dort gewesen, fuhrst auch jetzt nicht hin, obwohl du nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt wohntest. Du fühltest, dass das undankbar sein musste. Aber Dankbarkeit war eben auch etwas, was du endlich loswerden wolltest. Ein besonderes Talent dazu hattest du ohnehin nie gehabt. Und schien in diesen Westberliner Tagen nicht alles eine Frage des Talents? Das ersetzte dir einiges, andere Wörter, ›Veranlagung‹, ›Potential‹, und das Leben war schließlich kein Entwicklungsroman, oder? Ach, hör auf, das Wort kanntest du da noch gar nicht. An der Beisetzung hattest du nicht teilgenommen. Du warst erst am selben Tag angekommen, noch rechtzeitig, aber du konntest den Friedhof nicht finden, verfuhrst dich, sprachst niemanden an, ein Taxi trautest du dich nicht zu nehmen, aus Angst, es verschlänge sofort einen Großteil deiner Ersparnisse. Dann war es dir plötzlich egal. Du standest mitten auf einer Kreuzung, es muss irgendwo in Schöneberg gewesen sein, völlig falsch. Du fragtest dich, was gewesen wäre, wenn dein Vater lieber heilen Leibes unter die Erde gekommen wäre, wenn die Behörden nicht anderthalb Wochen Zeit zum Vertrödeln gehabt hätten. Ständest du dann hier? Diese Frage schien dir so wichtig, dass sie dich paradoxerweise die Wichtigkeit der Beerdigung nicht länger einsehen ließ. Du standest hier, und nur das zählte. Das war nicht so opportunistisch, wie es aussah. Erst da wurde dir nämlich klar, dass dein Vater tot war. Toter als tot. Dass er ja nie gelebt hatte, nicht für dich. Also was solltest du auf dieser Trauerfeier. Schließlich war er nicht für dich gestorben. Du hattest gar nicht gemerkt, wie sich im Laufe der Zeit Gleichungen zwischen euch aufgestellt hatten, ein ganzes Gleichungssystem, und als es dich eines Tages schrecklich wie in einer Mathearbeit anflimmerte, konntest du nicht überblicken, ob es mehr Gleichungen als Unbekannte waren oder umgekehrt. Sicher war nur, dass es entweder keine oder unendlich viele Lösungen gab.