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Was deine Mutter betraf, so wagtest du dich nicht mal an eine Ungleichung. Auf welche Seite du dich auch geschrieben hättest, das Zeichen wäre doch immer auf dich gerichtet gewesen. Und so eine Selbstgerechtigkeit untersagtest du dir. Selbstmitleid, meinst du. Du hattest dich entfernt aus diesem System. Es musste doch verschiedene geben, wie in der Musik. Naturgesetze, ja doch, mein Gott. Dann musste es eben verschiedene Naturen geben. Zumindest war euch beiden das Gleiche klar, klargewesen schon, als du ihr sagtest, du würdest den Antrag stellen. Klargewesen auch, als du die Papiere erhieltst: Du durftest fahren zur Beerdigung eines Angehörigen ersten Grades, aber nur du, allein, ohne Angehörige welchen Grades auch immer. Ein Rückholbändchen, das fast sofort riss.

So eine Klarheit. Die wollte dir später nie wieder gelingen, du verzehrtest dich nach diesem Gefühl, das dich an jenem Morgen aufspannte wie ein Segel, als du heraustratest in die tonlose Februardunkelheit. Du hattest niemanden geweckt, aber dann stand Anna Hanske doch in der Tür, du hattest nicht daran gedacht, dich nicht umzudrehen. Und da sahst du es ihr klar und deutlich an: dass du diesen Weg nicht zurückgehen würdest. Vielleicht stimmt es nicht, aber dir war, als wüchse dir erst in diesem Augenblick die letzte Entschlossenheit zu. Deine Tasche war klein, wirkte unverdächtig. Nur zwei oder drei ließen sich nicht täuschen. Du sahst nicht zu dem kleinen Fenster hoch, obwohl du wusstest, dass dort kein Winken sein würde.

Es kam dir wie eine Verabschiedung vor, als der blasse, nicht sehr große Junge, ›Mann‹ konntest du nicht denken, dir über den nun leeren Platz hinweg zuwinkte. Die anderen waren wieder verschwunden, in ihren Betten und Angelegenheiten, wie mit der Nacht zurückgesaugt, abgesaugt von dir, und der sich dort nur dank seiner schwarzen Jacke und seiner fast ebenso schwarzen Haare deutlich von der grauen Fassade hinter ihm abhob, überscharf fast, dessen weißes Gesicht sich in der Milchfarbe des Himmels aufzulösen drohte, der da an seiner flatternden Hand hing wie ein Trauerflor, den der Januarwind gleich abreißen und zusammen mit den über den Platz treibenden schmutzigroten Pappröhrchen davonwehen würde, schien dir auf unbegreifliche Weise über alle Wahrscheinlichkeiten erhaben, als er auf dich zustakste, eine tapfere kleine Elster. Du bliebst einfach schief da stehen. Dir war, als flösse Niederprozentiges durch deine Adern, klebrige Liköre. Als er dich fast erreicht hatte, als du sicher sein konntest, nicht mehr missverstanden zu werden, winktest du zurück, weil dir plötzlich sein Name wieder einfiel.

«Hallo. Ingrid«, sagte ein blaugefrorener Mund.»Wie schön.«

Du begriffst einen Augenblick nicht, dass der Satz schon zu Ende war. Er gab dir nicht die Hand. Er stand direkt vor dir.

«Hallo. Michael.«

Er nickte, als ob du etwas richtig gemacht hättest. Du versuchtest dich zu entscheiden, ob seine Augen braun oder grün waren, denn hinsehen konntest du nicht. Du versuchtest dich zu erinnern, ob du in der Nacht mit ihm geknutscht hattest, in der lauten Nacht, eingekeilt zwischen Mänteln, Haaren, Kotze und Knallern, Herren- und Heimatlosen, Kommilitonen, euren, und ob es noch im alten oder schon im neuen Jahr gewesen war. Das war doch wichtig. Du versuchtest, freundlich zu sein.

Du konntest ihn lange nicht richtig anfassen.

Es kam dir nicht richtig vor. Er war doch ein Fremdling in deiner Sprache. Du glaubtest, er würde alles falsch verstehen. Du würdest alles erklären müssen. Du glaubtest, er könne das nicht lernen: akzentfrei mit dir zu reden. Wenn es schon sonst keiner konnte, nicht wahr. Du fingst an, dein Englisch auszubessern.

Eine Probe: Für dieses Buch hattest du gerade noch genug Geld. Du kauftest es und schenktest es ihm. Du hattest gehört, es solle schwierig sein. Du aßt Michaels Brot und Michaels Suppen und fragtest ihn, warum er es nicht lese. Du hättest deinen» last penny «dafür gespendet. Warum er denn überhaupt so einen Scheiß wie Germanistik studiere. Wo einem doch am Ende nur noch Goethe überall rausläuft, wo man nur noch Goethe sabbert und nach Goethe stinkt, pfui Deibel. Michael tat so, als hätte er nicht alles verstanden. Er sagte, dass WILHELM MEISTER ihn genug beschäftige. Da könne er sich nicht noch MUTMASSUNGEN» about some JAKOB «leisten. Er fragte dich, ob das hier eine Landschaft sei. Eine halbe Stadt mit ein paar» trees at the fringe«. Er fragte, wo du später arbeiten wolltest. Du sagtest, du wolltest keine Ponyfrisur. Er lachte.

Zwei Jahre später standest du heulend zwischen den englischen Baumfransen. Schwanger. Dieses Kind würdest du behalten, so viel war klar. Es war euer Kind. Ingrid war seine Mutter und Michael sein Vater. Ingrid Ishley.

Du stürztest dich in die Gärten. Du dachtest nicht darüber nach, was dir an dieser Inszenierung von Natur lag. Ob das eine Landschaft war. Die Gärten gefielen dir einfach, und das war etwas in dieser Zeit. Ein Gefühl so gut wie neu. Manchmal verreistest du für ein paar Tage. Die Bücher nahmst du mit, dein Notizheft, ein wenig Proviant. Dein Bauch hielt den schweren Rucksack im Gleichgewicht. Wenn du, nicht selten durchnässt, immer hungrig, am Abend in dein B&B-Zimmer kamst oder, wenn du nur in der näheren Umgebung geblieben warst, in den kleinen, halbvergessenen Gärten Norfolks, zu Michael in die Wohnung, fühltest du dich wie ein aus seinen Diensten entlassener Einsiedler. Es schien dir merkwürdig, die Länge deiner Haare und Nägel unverändert zu finden. Nur dein Bauch wuchs. Du dachtest: Er wächst, immer weiter. Du wusstest nicht genau, wen du meinst mit ›er‹.

Einmal rutschtest du in einen Ha-Ha und knicktest dabei mit dem Fuß um. Du kamst nicht mehr raus. Du warst allein weit und breit. Der schlammige Grund schmatzte, als du versuchtest aufzustehen. Du aßt einen Apfel. Eine Weile lehntest du an der steilen Wand dieses ungewöhnlich tiefen, aber ohne Steine angelegten Gartenkunstmittels, bis du wieder zurücksacktest, nachgabst. Du müsstest das Kind eben in instabilen Verhältnissen gebären. Ha ha, dachtest du, und die Frage, woher diese unsichtbaren Gräben ihren Namen haben, beantwortete sich plötzlich von selbst. Als Einsiedler durfte man natürlich kein Kind haben. Jedenfalls nicht offiziell. Du fingst an, nach Michael zu rufen, es klang besser als ›Help!‹.

Nach Minuten oder Stunden sahst du einen Jungen über dir stehen. Er legte sich auf den Boden und hielt dir seinen Ledergürtel hin. Du bandest deinen Rucksack dran. Gern hättest du auch deinen Bauch abgeschnallt. Der Junge war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, aber er schaffte es, dich an dem Gürtel ein Stück hochzuziehen, dass du mit der Hand ein Grasbüschel ergreifen und mit dem unverletzten Fuß einen prekären Halt finden konntest. Du stemmtest dich hoch, der Junge half dir, zerrte an dir mit einer ausdauernden Kraft, zerriss dabei deinen Anorak und entschuldigte sich. Er trug geduldig deinen Rucksack neben dir her, als du in kleinen Schritten zum Ausgang humpeltest. Er wartete mit dir auf den Bus. Du fragtest nach seinem Namen. Er sagte, er heiße Paul William Herrington,»like the fish, you know«. Du gabst ihm, was du noch an Geld bei dir hattest. Die Wehen setzten im Morgengrauen ein, fast einen Monat zu früh. Paul wurde in einem Krankenhaus in Norwich geboren.

In Kinsale, in Irland, in einem Haus, vor das du noch nicht das Wort ›dein‹ zu setzen wagtest, erreichte dich zehn Jahre und einen Tag später der erste Brief von Peter. Du sahst ihm sofort die zahllosen Anläufe an. Die Handschrift war gleichmäßig, ohne Fehler oder Verbesserungen, und die Absätze — schon allein, dass es welche gab — passten nicht recht zusammen, schienen Konzentrate von im Laufe der Zeit entworfenen und wieder verworfenen Briefen zu sein.»Jetzt, wo es geht«, schrieb Peter. Es gelang dir nicht herauszufinden, worum es ihm ging. Du stelltest dir vor, Peter hätte bis jetzt gebraucht, um deine Adresse herauszufinden, sich deiner Anwesenheit im selben Raum-Zeit-Kontinuum zu versichern. Es erschreckte dich. Dass das immer noch ging. Dass es so etwas wie Peters Anwesenheit gab. Adressen. Die grundsätzliche Erreichbarkeit, sofern in siebzehneinhalb Jahren für dich und ihn in etwa siebzehneinhalb Jahre vergangen waren. Du hattest nicht geschrieben. Damals, als es nicht ging. Du wolltest keine Schwierigkeiten machen. Peters Brief war wie das Nicken von Michael, damals. Du schriebst zurück. Du machtest viele Absätze.