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Michael wusste von diesem fernen Bruder. Hinter der Mauer, hinterm Mond, zu fern für dieses Leben. Peter war dein Zugeständnis an Michael gewesen. Es war zu spät, ihm etwas anderes zu erzählen. Als der zweite Brief kam, zwei Jahre darauf, ein hastiger, zugleich scheuender, mit vielen Streichungen zusammengequälter Brief, war es endgültig zu spät, ihm irgendetwas anderes zu erzählen.

MARIA

Das war auch so ein Wetter in dem Jahr, genau so ein malles Wetter. Morgens immer Sonne und keine Wolke zu sehn, und dann regnete das den ganzen Tag. Und kein Mensch auffe Straße, hat sich ja keiner mehr rausgetraut, na, und danach erst recht nich, die alten Weiber, die haben da alle den Schlüssel zweimal rumgedreht. Die alte Hilda Roggelin. Sonja, was ihre Enkelin is, die wollt ihr das erst gar nich sagen, die wollt ihr nu keine Angst machen, aber haben ja nu doch alle davon geredet, die Schwestern und alle, und denn hat Sonja ihr das lieber doch erzählt, bevor sie das so nebenbei mitkriegt. Ich mein, das war ja ihre Freundin, nich, Erna Mehling war ja ihre Freundin, obwohl die n ganzes Stück jünger war. Aber in dem Alter kommt das da nich mehr drauf an. So alt wird unsereins gar nich mehr. Das hat Simon auch immer gesagt. Aber Erna war da auch nur ein Jahr älter als ich jetzt, als das passiert is. Paar Tage später bin ich ganz früh zu Simons Grab hin, ich dacht, bevor das wieder anfängt, und das war ja sein Sterbetag, und dann hab ich das gesehn vom Kirchhof aus, Ernas Tür, dass da was rübergeklebt war, dass keiner mehr raus und rein konnte, und da hab ich das erst geglaubt. Da hab ich das gesehn, das war zu sehn, dass das leer war, das Haus. Und ich wollt mir gar nich vorstelln, wie das gewesen war, was die so erzählt hatten, aber ich hatt das immerzu im Kopp.

Das war so ruhig an dem Morgen, und die Sonne schien in mein Fenster, und kalt war das, ich dacht, na, ich bleib ma noch paar Minuten länger im Bett, und denn ging das auf einmal tatü-tata, und denn kam der Krankenwagen oder die Polizei. Erst dacht ich, das brennt irgendwo. Da bin ich sofort aussem Bett. Da hatt ich immer solche Angst vor, wenn das irgendwo brannte. So wie damals, als deswegen die Schule ausfiel. Da kamen uns die Jungens entgegen und riefen immerzu:»De Schaul brennt, de Schaul brennt!«, aber das stimmte nich. Gebrannt hat das zwei Häuser weiter, da war morgens der Blitz in die große Kornscheune eingeschlagen und gleichzeitig hundert Meter weiter in’n Kuhstall, und das brannte lichterloh, das waren ja beides Reetdächer gewesen. Und da mussten wir Kinder nu mit ran und die Kühe auf die Wiese treiben und aufpassen, dass die nich wegrennen. Und ich weiß noch, wie wir beide stolz waren, Anna, dass wir da helfen durften, denn da wurden bloß die größeren Kinder für genommen, und wir waren noch gar nich so groß. Und ich hatt eine Heidenangst vor dem Feuer, und ich wollte auch gar nich, dass die Schule mit abbrennt, auch wenn das nich so schön war in der Schule mit Herrn Pittelkow, aber immer zu Hause bleiben wollt ich auch nich, und dann hätt ich dich ja auch nich mehr gesehn.

Und das war so ein Wetter an dem Tag. Wie sie gekommen sind, da schien noch die Sonne. Und wie sie sie denn rausgetragen haben, da hat das gegossen,»immer ruff uff ehr, immer ruff uff dat witte Tüch, wo se drunner lag«, wie Martha gesagt hat, die hat das ja alles gesehn von ihrem Fenster.

Und das hat sie auch gesagt, vorher, dass das nich gut geht, wodrauf Erna sich da bloß eingelassen hat, dass ihr das mal einer sagen muss, dass das nich geht. Aber gesagt hat sie Erna das nich. Und dass das nu so kommen würd, dass das nu so ein Ende nehmen würd, das hat Martha auch nich gewusst, da kann sie noch so schlau tun. Keiner hat das gewusst, auch wenn sie denn alle so getan haben: Dat hett’s nu davun.

Was wollt die bloß mit dem Bengel? Aber das war auch so eine, die nich nee sagen konnt. Und siehst du, das war nu der Unterschied zu dir, Anna. Du hättst das nie so weit kommen lassen. Ich will ja nich sagen, dass sie nu was dafür konnte, Erna, dass das passiert is, aber bisschen war sie vielleicht doch schuld dran. Das war vielleicht so wie mit dir, Anna, du konntst vielleicht auch nix dafür, dass dein Theo abgehauen is, und dass deine Tochter auch weg is, und alles, was passiert is, aber vielleicht doch. Ich mein, gewollt hast du das nich. Aber passiert isses ja, und da muss man sich doch fragen, warum. Erna konnt das nu nich mehr. Ach, die war viel zu gut für diese Welt. Die hat gedacht, sie könnt ihm irgendwie helfen damit. Die hatte auch keine Angst. Da war sie genauso wie du. Bloß, dass du auch keine Angst zu haben brauchtest. Dir hätt er ja nix getan. Zuerst, wie das passiert war, hab ich gedacht, wenn er das nu mit dir gemacht hätt, Anna. Aber das konnt ich mir gar nich vorstellen. Du hattst wie so was um dich rum, wie so einen Schutzmantel, an dich kam keiner ran, und Henry hast du schon zur Räson gebracht, wenn er wieder mal durchhaute. Was der auch angestellt hat, du hast dir nix anmerken lassen, er konnt dich nich ärgern damit, und du hast dich auch nich geschämt vor die Leute.»Komm, Henry«, hast du immer gesagt, und denn bist du mit ihm nach Hause, und ich weiß nich, ob du ihn bestraft hast und mit was, aber denn war erst mal wieder eine Zeitlang Ruhe. Anna, nee, ich hätt mich in Grund und Boden geschämt. Wie du das so konntst.

Wie er da mitten auffe Straße, ach nee! Und alles hat zugeguckt, und die Gören immer um ihn rum, und ein Gejohle! Ich dacht wunder, was da los war, und wie ich dichter komm, seh ich das, die ganze Schweinerei. Nee, das war ja nich mitanzugucken.»Ick künn doo goor nich henkieken«, hat Martha gesagt, aber gesehn hat sie denn doch alles hinter ihre Gardine. Wie er da mitten auffe Straße stand und da rumgefummelt hat an sich selber und seine Hose offen und alles hing raus, und keiner is hin zu ihm und hat ihn da weggeholt, vonner Straße. Die Gören haben bloß gelacht. Und ich war noch so dumm zu sagen:»Was gibt das denn da zu lachen, schert euch nach Haus!«, und denn haben sie mich auch ausgelacht. Aber Herrgott, das ging doch nich.»Henry!«, ruf ich, und ich weiß genau, das war das erste Mal, dass ich ihn so angeredet hab, mit seinem Namen, und da war mir ganz komisch dabei, ich hatt auch bisschen Schiss, aber nich vor ihm, da hat das ja noch keiner geahnt.»Henry!«, sag ich.»Was soll denn deine Oma denken. Nu geh du man schön wieder nach Hause. «Aber er hörte ja gar nich, der hatte bloß die Augen stier zum Himmel und machte nu immer weiter, und ich weiß auch nich, ich mein, ich war ja nu kein junges Mädchen mehr, aber ich hab mich so geschämt, ich wär am liebsten weggelaufen, ich konnt das nich sehn. Aber einer musste doch was machen. Ich wollt grade zu ihm hin, ich hätt ihm am liebsten ne Backpfeife gegeben, so ein Schweinigel, nee, und da seh ich mit Mal ein Auto ankommen, aber mit volles Karacho kommt der da angefahrn, und ich nix wie runter vonner Straße und die Gören auch, und ich ruf noch:»Henry!«, aber Henry bleibt stehen, der steht da wie angewurzelt, und er sieht, dass der auf ihn zurast, er starrt den ja richtig an, und rührt sich nich! Ich denk, Mensch, das is doch der Gühlmann mit sein Wartburg, aber da war das auch schon zu spät. Ich dacht, ich werd nich wieder, wie der da so haarscharf an Henry vorbei is, dass Henry das Taumeln kriegt und mit seine Kapuze da am Spiegel hängen bleibt und schreit und schreit, wie er da mitgeschleift wird bis um die Kurve und denn da liegen bleibt mitten auffe Straße. Und der Gühlmann hat nich angehalten. Der is einfach weiter. Und Henry war erst ganz stumm, wie er da lag, und ich dacht wirklich, das wars nu mit ihm. Aber denn fängt der auf einmal an zu bölken und macht ein Geschrei, als ob sie ihn abstechen, wien Schwein, so hat der gebrüllt, und brüllt und brüllt und hört nich auf, und die Gören sind gleich um die nächste Ecke und nix wie weg, und der lütte Sohn von Dietmar Beier is als Einziger zu ihm hin, und den hat er weggeschubst, dass der hingefallen is, und denn is der auch weggerannt, und ich hab mich auch nich hingetraut. Ich dacht, irgendeiner muss dir Bescheid sagen, Anna, irgendeiner muss hin zu dir, aber denn warst du auf einmal schon da. Und hinter dir her kam Marthas Elke mit ihrem Mann, die hatten dir das vielleicht gesagt, und Elke hat sich da hingestellt mit verschränkte Arme und sich das angeguckt, und denn kam auch noch Heini aus seine Tür und sagte:»Ein Theater!«, und meckerte rum mit seine heisere Stimme, und Christel guckte ausm Fenster mit ihrem Helmut und sagte zu ihm:»De Bengel gehüürt doch inne Anstalt!«, und so laut, dass du das auch gehört hast. Und du hast Henry an sein Arm genommen und hochgezogen, und er hat immer noch geschrien, aber du hast ihn hochgekriegt, und denn hat man erst das Blut gesehn an sein Kopp, und seine Jacke war hinten auf.