Ich habe mich in Chemie neben sie gesetzt. Frau Pufesiel hat zwar erst ein bisschen geguckt, aber nichts dagegen gesagt, wahrscheinlich hofft sie, dass Ella sich mit meiner Hilfe doch noch auf eine Drei hieven kann und meine Anwesenheit sie von allzu ungestörtem Dösen abhalten wird. Ich lasse sie die Experimente machen, was einerseits ganz schön uneigennützig von mir ist, denn das ist der Teil, den eigentlich ich gerne übernommen hätte, dieses Rumpanschen mit den ganzen bunten, stinkenden Sachen. Andererseits ist es auch zu meinem Vorteil, denn ich könnte unmöglich Ella die Berechnungen und die Schreibarbeit überlassen, ohne zu riskieren, dass für uns beide innerhalb kürzester Zeit acht Punkte auf dem Zeugnis zu einem hoffnungslosen Unterfangen würden. Es juckt sie einfach nicht. Aber ich glaube, sie strengt sich jetzt ein bisschen an. Mir zuliebe. Und ich komme nicht mehr dazu, meine Blattränder mit Krakelgebilden, schiefen Sternen und Songzeilen zu verunzieren. Und bin auch nicht mehr Psycho-Svens Blickpfeilen ausgeliefert, mit denen er jetzt höchstens noch meinen Rücken harpunieren kann. Die ich aber abfange, weil ich mich ab und zu, unberechenbar und torpedoschnell, zu ihm umdrehe. Womit ich ihn schon zweimal zum Rotwerden brachte. Und Ella sagte zu mir:»Der gafft einen immer an, ne!«
«Dich auch?«
Da mussten wir beide lachen, was einen ersten strengen Blick von Frau Pufesiel provozierte. Seitdem ist sie misstrauisch: Sollten wir uns etwa doch aus Gründen der Sympathie und nicht nur aus solchen der solidarischen Hilfeleistung zusammengesetzt haben? Na, da kann sie ganz beruhigt sein: Wir helfen uns äußerst solidarisch, nämlich über ihren Unterricht hinweg. Als Ella neulich so von unten zu Frau Pufesiel auf ihrem Podest hochäugte und ihre übliche überdimensionale rote Haarschleife fixierte, um dann folgenden Kommentar loszulassen:»Also, wie mein Vater sagen würde: ›von hinten Lyzeum, von vorne Museum‹«, versetzte uns das derartig in Heiterkeit, dass Frau Pufesiel sich gezwungen sah, ihr nicht gerade leicht zu ignorierendes Hinterteil herumzumanövrieren und Ella des Unterrichts zu verweisen, womit sie natürlich in jeder Hinsicht die Falsche traf. Nicht nur, dass ich viel lauter gelacht hatte als Ella, auch die Strafe, war ich mir sicher, würde sie eher als Belohnung auffassen. Und ich musste sofort an good old Edgar Wibeau denken: KEIN AAS VON LEHRER TRAUTE SICH DOCH, MIR EINE FÜNF ODER WAS ZU GEBEN. Das kenne ich. Nicht mal Frau Pufesiel würde mich jemals rauswerfen. Wenn der Mensch ein Gewohnheitstier ist, dann ist der Lehrer eine etwas primitive Maschine, störanfällig, nicht umprogrammierbar, aber leicht zu manipulieren.
Ich bin froh, solche Dinge nicht über Mama oder Papa sagen zu müssen, wie Ella, die, als ich ihr meine Überlegung kundtat, sofort nickte:»Wie meine Eltern. «Ich wollte schon sagen, kein Wunder. Ich meine, die sind ja auch Lehrer. Aber ich glaub, ich hab auch so ganz schön Glück gehabt, also, objektiv betrachtet und das ständige Angenervtsein, was wiederum sie annervt, was wiederum mich annervt, außer Acht lassend. Das scheint ja normal zu sein. Angeblich befinde ich mich ja immer noch in der Pubertät. Täterät. Schon das Wort klingt nach ausgedrückten Pickeln und sexuellen Nöten. Eins von beiden habe ich nicht.
Mama vorhin wieder:»Lad die beiden doch mal zu dir ein«! Ich überlegte, ob ich jetzt eine Ausrede erfinden müsse oder mich einfach weigere. Bei Ersterem kommt die Anstrengung davor, bei Letzterem danach. Ich entschied mich für einen etwas schwachen Kompromiss:»Wir sind jetzt aber schon bei Ella verabredet.«
Mama wusste offenbar auch nicht recht, ob das jetzt Fisch oder Fleisch war, und brachte nur ein» Aber «hervor, aber da war ich schon halb aus der Tür. Hin zu Ella und ihrem Blümchenkaffee, dem roten Sessel.
Und jetzt: sitze ich zur Rechten Pauls des Unfassbaren, und es kommt mir heute vor, als sei das schon immer so gewesen, als hätte es nie etwas anderes gegeben, beziehungsweise anders: nicht, als wäre seit einer kurzen Weile etwas Besonderes, sondern endlich sozusagen der Normalfall wieder eingetreten, der Soll-Zustand, nach einer unnütz langwierigen Unterbrechung. Wie bei Weihnachten: Wenn es endlich so weit ist, man das ganze Weihnachts-, Lichter- und Liederzeug wieder hervorkramen darf, nachdem man schon im September einen ersten Sehnsuchtsanfall danach hatte, mag man gar nicht mehr an das Vorher denken, jeder Gedanke an den Sommer zum Beispiel lässt einen schaudern. An das Nachher erst recht nicht. Ein Nachher ist schlichtweg nicht denkbar. Zumindest gings mir früher so. Weihnachten war das Eigentliche, das Absolute, die wahre Zeit, die endlich nächtliches Aufstehen, Sportunterricht und die ganze Ungerechtigkeit und Öde der Welt überwindet. Aber seit ein paar Jahren verblasst auch diese letzte Absolutheit der Kindheit immer mehr, und schon am Dreiundzwanzigsten schleicht sich der Gedanke ein, dass es alles sehr bald vorbei sein wird, dass es sich auch hierbei um etwas Vorübergehendes handelt, dass es einen Januar gibt, einen nächsten ätzenden Sommer.
Ich frage Pauclass="underline" »Wie kommt dein Vater voran?«
Er hatte neulich erzählt, dass sein Vater tatsächlich versucht, die Leute hier auszuquetschen, nach irgendwelchen verschollenen plattdeutschen Wörtern und für seine Uwe-Johnson-Arbeit. Ich habe ihn auch selbst schon die Dorfstraße langschlendern sehen, wirklich schlendern, womit er wahrscheinlich sofort neun von zehn Sympathiepunkten verspielt hat,»dei het woohl nix to daun!«, und der letzte dürfte ihm spätestens dann abhandengekommen sein, als er anfing, den ersten» uttauhörchen«.
«Überhaupt nicht«, sagt Paul.
Und dann sagt er:»Aber Ingrid, also, meine Mutter.«
Von zwei Dingen auf einmal verwirrt zu werden, macht es einem auch nicht gerade leichter, unbefangen zu reagieren. Meine Entscheidung ist instinktiv:»Du sprichst deine Mutter mit Vornamen an?«
Paul zögert, er hat anscheinend die andere Frage erwartet.»Nein, also, nicht immer. Eigentlich, ich soll ›Mum‹ sagen, aber manchmal ich sag Ingrid, und wenn ich denke über sie, also, du verstehst? Ich finde, ›Mum‹ passt nicht zu ihr.«
«Einer will das Haus kaufen?«, fragt Ella.
THAT’S THE QUESTION.
«Ja«, sagt Paul.»Sie hat jemand gefunden, vielleicht.«
Vielleicht. Der Abend des sechsundzwanzigsten Dezember.
«Also fahrt ihr bald?«
Ella! Musste das sein? Wie soll ich denn jetzt noch …
Paul sitzt da, vornübergebeugt, die Arme auf den Knien, die Hände wie in einer Bittgeste aneinandergelegt, ernst und schön, es steht ihm sehr gut. Er nickt, langsam und schön wie sein Lachen, und Ella seltsamerweise auch, sie fällt, so scheint es, fast zufrieden in dieses Nicken ein.
Okay. Okay, okay, okay. Cool bleiben jetzt. Jetzt ist jetzt. Wie war das? ALLES HAT SEINE ZEIT, genau. Die Bibel. Die Puhdys. STEINE SAMMELN, STEINE ZERSTREUN. Cool bleiben, Romy. Heut ist heut, und morgen ist morgen. Und um den morgigen Tag braucht man sich keine Sorgen machen, weil man ja schon am heutigen genug davon hat. Genau. ALS ICH AUFSTAND, IST SIE GEGA-ANGEN. Aber jetzt ist — scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße.
Und ich höre es erst beim zweiten Mal, als Ella ihn schon entsetzt anstarrt. Paul sagt, es klingt ein wenig müde:»Ich war bei die Elpe.«
Ich höre das und kapiers nicht. Offenbar hab ich irgendwas verpasst. Einmal zurückspulen, bitte. Oder warum ist mir auf einmal wie an einem dieser verkorksten Tage, an denen man morgens eine Viertelstunde verschläft und das den ganzen Tag über nicht mehr aufholt?
Ich merke, dass ich genauso starre wie Ella, und versuche, mich zusammenzureißen.»Was soll das heißen?«
Paul guckt mich etwas bange an, dann lächelt er.»Well, ich war einfach da, you see. Ich habe geredet mit ihnen.«