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«Denn geh doch, Heulsuse!«, ruft Ecki.

«Mann, lass sie in Ruhe, du Arsch!«, sagt Anne auf einmal.»Bist ja bloß neidisch!«

Und Ecki sagt nichts.

Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Ich merke, dass ich sie nicht trösten kann, weiß auch gar nicht, ob das nötig ist. Schließlich fördere ich einen Satz zutage, der mir selbst nicht besonders hilfreich vorkommt:»Du kannst nicht wissen, wie es ist, bevor du nicht da warst.«

Sabrina sieht mich an. So schnell, wie sie zu weinen anfing, hat sie auch wieder aufgehört. Wie macht sie das? Sie sieht mich nur an, nichts weiter.

Plötzlich merke ich, dass Paul neben mir steht.»Ich denke, ich muss gehen jetzt«, sagt er. In die Runde. Zu mir nichts. Ich warte, aber es kommt nichts. Sowieso, denke ich, sowieso läuft das hier alles doch schon wieder völlig falsch. Ich wollte längst aufgestanden sein. Ich wollte sagen, ich gehe. Und bloß wegen Sabrina Rütz. Ist mir doch egal, ob sie in ihrer Dorfschule versauert. Aber ich muss jetzt wieder folgsames Herdentier spielen und sagen, warte, ich komm mit. Aber da habe ich doch auf einmal so einen ganz schlechten Geschmack auf der Zunge, der direkt aus der Kehle kommt und kein einziges Wort passieren lässt. Ich stehe auf. Die Angst, dass er sich einfach umdreht und geht. Dumme Angst. Ich will ihm nicht hinterherlaufen. Ich will nicht, dass sie es sehen.

«Also, tschüß denn«, sage ich, und Pauclass="underline" »See you.«

«Jo — tschüß denn«, ruft Ecki, ein bisschen überrumpelt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist alles ganz normal, wie immer, und wenn ich mich jetzt umdrehte, sähe es vielleicht so aus, als wären wir nie dagewesen.

Als wir draußen sind, bleibt Paul plötzlich stehen und legt mir von hinten seine Hand auf die Schulter:»Romy?«

Ich könnte auf der Stelle losheulen. Aber ich wende das optimierte Sabrina-Prinzip an. Ich höre auf, bevor ich überhaupt angefangen habe.

«Was ist?«Meine Stimme klingt so dünn wie das Seil, auf dem sie balanciert.

«Nimmst du mich mit — ich mein, wenn du wieder gehst Hasen jagen?«

Ich lache, es bricht nur so aus mir raus, es spült den schlechten Geschmack einfach weg, Paul und ich lachen, ich lache und lache, um nicht zu heulen, aber ich heule, aber es ist dunkel.

Paul fragt:»Und? Hast du noch Angst?«

«Angst?«, frage ich. Welche Angst. Welche Angst?» Wovor?«

«Vor sie.«

Ich weiß, dass er lächelt.

«Vor ihnen«, sage ich ärgerlich.

Wir warten. Aufeinander. Schließlich fragt Pauclass="underline" »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Ich unterdrücke jeden euphorischen Aufruhr an meinen Synapsen, denke: Deutsch-Konversationskurs für Anfänger, und sage:»Danke, nicht nötig. «Ein Rest bleibt immer.

«Sicher?«

«Ich habe keine Angst«, rufe ich über die Schulter.

ELLA

Muss ich jetzt hingehen? Ich hab Paul gefragt, ob er mal hingeht, ich hab mich nicht getraut zu fragen, ob wir zusammen gehen wollen. Er hat gesagt, ja, mal sehen, hörte sich nicht so an, als wenn er unbedingt will. Aber er muss doch wissen, was los ist, ich mein, das kann doch nur wegen gestern Abend sein. Aber er hat nix gesagt. Ich hab auch nicht gefragt. Als Romy heut Morgen nicht zum Bus kam, hat er bloß mit den Schultern gezuckt und gesagt:»Vielleicht sie ist krank.«

Sie ist krank? Glaub ich nicht. So auf einmal? Weiß ich nicht, ob sie das kann. Ich konnt das eins a früher, einen auf krank machen.»Markieren«, wie Vati immer gesagt hat.»Nu markier ma hier nich rum. «Aber Schiss hat er doch gehabt, wenn das Fieberthermometer auf neundunddreißig acht stand. Konnt er ja nicht ahnen, dass ich den Trick von Thorsten hatte. Das mit dem Reiben an der Wollsocke, das hat funktioniert. Da wär ich von alleine nie draufgekommen. Auch, als sie uns das in Physik später mit der Reibung und der ganzen Energie erklärt haben, wär ich da nicht draufgekommen. Das war mein Glück. Manchmal ist das nämlich gar nicht so verkehrt, bisschen schwer von Kapee zu sein. Weil, Vati hätt doch nie im Leben vermutet, dass seine doofe Tochter sich so was ausdenkt. Der hat doch immer gedacht, er kann mir ins Gehirn gucken,»ich weiß, was da drin vorgeht, nich dat du denkst«, hat er gesagt und mir dabei an den Schädel gekloppt, und:»nich grade viel nämlich«. Aber so doof war ich nun auch wieder nicht. Das hab ich nie geglaubt. Gab ja genug Gegenbeweise. Seit ner Weile hab ich eher das Gefühl, ich könnte bei ihm reingucken. Zum Beispiel kann ich da ganz genau sehen, dass er bis heute keinen blassen Schimmer von der Sache mit dem Thermometer hat. Ich frag mich, wie er auf die Art Lehrer sein kann. Thorsten hat das übrigens nie gemacht. Der hat sich bloß immer eins gegrinst, wenns bei mir mal wieder so weit war. Wenn ich morgens aufgewacht bin und gewusst hab: heut kann ich auf keinen Fall zur Schule. War ja eigentlich auch ne Art Krankheit.

Irgendwann hab ich denn aber aufgehört damit, war mir dann zu affig. Vielleicht hatte das auch was damit zu tun, dass sie uns damals diesen Film gezeigt hatten, gleich in der Sechsten. Son Aufklärungsfilm, ich glaub, der war noch gar nicht für uns, aber wahrscheinlich haben sie gedacht, sicher ist sicher, und das war ja auch kurz nach der Wende, und da dachten die vielleicht, das muss jetzt so sein, jetzt machen wir das wie im Westen. Keine Ahnung, ob sie das im Westen so machen. Jedenfalls, man wusste nicht so richtig, ob man sich nun ekeln oder totlachen soll, irgendwie beides. Die meisten hatten bestimmt Alpträume danach. Ich hatte welche. Ich mein, unsere Eltern wären aus allen Wolken gefallen, wenn man denen gesagt hätte, sie müssten uns jetzt langsam mal paar reale Sachen erklären. Man wusste zwar son bisschen was, aber nicht so genau. Ich hatte ja auch Thorsten manchmal nackig gesehen. Aber nicht so. Und zu der Zeit sowieso nicht mehr, da hat er immer die Badtür hinter sich abgeschlossen, was besonders Mutti nicht in Kopp wollte. Ausgerechnet wenn er im Bad war, musste sie da auch unbedingt rein, und wieso er sich denn so hat. Furchtbar peinlich. Ich hab dann auch immer abgeschlossen, obwohl ich das eigentlich noch nicht brauchte.

Das mit dem Film ist übrigens auch nie rausgekommen. Weil wahrscheinlich keiner wusste, wie er das zu Hause erzählen soll. Was dann wieder den Nachteil hatte, dass wohl jeder früher oder später noch mal sone private Aufklärung über sich ergehen lassen musste. Unter vier Augen.»Ella, kommst du mal?«Als wenn es jetzt gleich Gemecker und irgendeine Strafe geben würd, und das war auch wie ne Strafe, bloß wofür. Wahrscheinlich auch schon mal vorbeugend, für alle» Dummheiten«, die damit zu tun haben.»Mach keine Dummheiten«, das wurd ja bei jeder Gelegenheit gesagt. Aber anders als früher wusst ich danach genau, was Mutti damit meinte, schon wie sie guckte, wenn das zum Beispiel auf Klassenfahrt ging. Vielleicht hab ich das alles bloß deshalb gemacht. Aus Rache. Dafür, wie sie mich bei ihrem Aufklärungsunterricht zwischendurch angegrinst hat, immer wenn sie dachte, dass sie mir nun grade was besonders Schockierendes erzählt hat. Das hat ihr nämlich Spaß gemacht. Und ich musste mir das alles von Anfang bis Ende anhören und konnte nicht sagen, ich weiß, weil, denn wär das Grinsen aber sofort weg gewesen, und immer noch besser das, als gefragt zu kriegen: woher? Das mit dem Film hätte sie mir gar nicht geglaubt, und wenn doch, dann hättes Strafe dafür gegeben, dass ich das nicht eher gesagt hab. Das war alles viel schlimmer als der Film, sogar schlimmer als diese Szene, wo einer sich einen runterholt, also ›masturbiert‹, und wo sie seinen Schwanz ganz groß im Bild zeigen, und weswegen ich das dann vielleicht nicht mehr mit dem Fieberthermometer gemacht hab. Das war dieselbe Bewegung. Das Wort schoss mir wochenlang im Kopf rum, ›Masturbation‹, bei den blödesten Gelegenheiten, als wenn dir einer plötzlich ganz kurz in die Magenkuhle haut. Ich glaub, das war mein erstes Fremdwort. Ich hab mich gefragt, ob es bei Mädchen so was auch gibt, aber wie denn? Das haben sie nicht gezeigt. Das musste man erst selber rauskriegen.