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Komisch, aber Paul ist der Erste, bei dem ich nicht sofort an seinen Schwanz gedacht hab. Ich kann nix dagegen machen. Immer wenn mir einer n bisschen länger vor die Linse kommt oder ich mit ihm reden muss, hab ich plötzlich seinen Schwanz im Kopp, und das wars. Scheißegal, was er macht oder was er so von sich gibt, ich kann dann nicht mehr zuhören, ich ekel mich nur noch. Vielleicht nicht ekeln, aber irgendsowas, wovon einem alles vergeht. Sogar wenn er nett ist. So wie letztes Jahr mal dieser Tobias Schneider, der kannte mich ja auch nicht. Der hat das echt geschafft, mir eine von seinen Schülerzeitungen anzudrehen, bloß weil er irgendwas gesagt hat, wodrüber ich lachen musste. Aber wie ich ihm dann das Geld gegeben hab und meine Finger kurz an seine gekommen sind, hab ich gedacht, dass er vielleicht grad vorher aufm Klo war. Die Zeitung hab ich im Essenraum liegen lassen.

Bei Paul kann ich nicht mal ›Schwanz‹ denken. Erst gings nicht, weil er so anders war, so fremd, das hat mich wohl irgendwie abgelenkt. Und jetzt auch nicht mehr. Vielleicht ist das dann weg, wenn man sich kennenlernt. Anfreundet. Sind wir jetzt eigentlich Freunde? Ich mein, alle? Oder ist das immer was anderes, zwischen Paul und mir, und mir und Romy und Romy und Paul? Ob er irgendwas mit Romy gemacht hat? Er war heut den ganzen Tag so komisch. Nicht direkt zu mir, was ich ja noch verstehen könnt. Mehr so allgemein. In Bio, als Frau Waller ihn was gefragt hat, hat er bloß gesagt:»Ich weiß nicht. «Und das hab sogar ich gewusst. Die Waller hat ganz enttäuscht geguckt, weil sie nämlich scharf auf ihn ist, merkt doch jeder. Und denn nimmt die auch glatt mich ran, weil, da war sie sich sicher, dass ich bestimmt keine Ahnung hab und ihr toller Paul also nicht doof da steht. Was sollt ich machen?» Keine Ahnung«, hab ich gesagt.

Nachher, im Bus, hat er nicht gefragt, ob wir uns heute treffen. Als wenn das ohne Romy sowieso nicht gehen würde. Ist ja auch so. Ich hätte Schiss, dass mir gar nix einfällt, mit Paul alleine. Dass wir dann beide bloß dasitzen und auf Romy warten.

Manchmal möcht ich ihn anfassen, einfach so. Weil er aussieht, als ob man ihn gar nicht anfassen kann.

Vielleicht will er noch mal zur Elpe. Das kapier ich echt nicht. Kann sein, es ist anders für ihn. Trotzdem. Ich dachte, er wär anders.

«Wasn das?«

Mann! Immer wenns grad gar nicht geht, kommt Vati angelatscht. Dabei wollt ich gleich wieder weg sein aus der Küche, hab mir nur schnell n Glas Tomatensaft eingekippt.

«Hey, Fräulein, ich red mit dir! Was trinkst’n da?«

Ach, leck mich doch.»Blut.«

Ich bin schon halb an der Tür, als Vati mich am Arm festhält. Der Saft plempert über. Ist gar nicht zu sehen auf dem schwarzen Pullover. Ich würd am liebsten aua sagen, sag ich aber nicht.

«Nu spiel dich ma hier nich auf. In letzter Zeit hältste dich ja wohl für wer weiß was, na, anscheinend fürn Vampir. Kannste dich nich einmal wie n normaler Mensch benehmen?«

«Nein.«

«Und wieso nich?«

«Na weil ich nich normal bin! Oder haste da neuerdings ne andre Meinung zu?«

«Wieso sollst du nich normal sein? Du bist auch nix andres als wir! Du bist auch bloß meine Tochter!«

Ich gucke ihm direkt in die Augen. Genügt eigentlich schon. Als er blinzelt, tut er mir fast leid. Er lässt los.»Ach ja?«, sage ich.

Er sagt:»Ja, Ella«, aber da hab ich die Tür schon zu.

Das ist doch gelogen! Eine Scheiß-Lüge ist das doch!

Oben kipp ich den Tomatensaft auf die Palme, die Mutti mir ins Zimmer gestellt hat. In meinem Schreibtischfach ist keine einzige Zigarette mehr. Sind alle gestern Abend draufgegangen. Also Treppe wieder runter und raus, erst mal raus. Ist mir egal, ob mich einer sieht. Ist mir scheißegal, ob mich einer in diesen Winterbotten sieht, ich hab jetzt keinen Nerv für Schnürsenkel.

Es ist ganz schön hell draußen. Ich weiß auch nicht, wieso, aber ich komm mir auf einmal wie rausgeschmissen vor. Als wär ich hier die ganze Zeit bloß als Gast oder so gewesen, als würd ich jetzt auf ner völlig fremden Straße in ner völlig fremden Gegend rumstehen. Ich mein, auf den ersten Blick sieht natürlich alles wie immer aus, so, dass man schon gar nicht mehr hinguckt. Aber jetzt guck ich hin. Und das hat alles irgendwie überhaupt nix mit mir zu tun.

Dass das Ding nicht mehr funktioniert, seh ich eigentlich schon von weitem. Ich geh trotzdem hin. Mit dreizehn hab ich meine erste Schachtel Kippen aus diesem Automaten geholt. Ich weiß noch, welche Marke, natürlich die falsche, die aber alle rauchen. Hat ein halbes Jahr gedauert, bis die alle war. Nachher bin ich auch noch paarmal hin, aber bloß im Dunkeln, mit Kapuze über, dass nicht einer noch was meinen Eltern zu erzählen hat, oder einer von denen mich erkennt. Ist aber alles ewig her. Heute würd ich mich das gar nicht mehr trauen, komischerweise. Hätt ich auch nicht gedacht, dass das jetzt schon losgeht. Dass man sich manche Sachen jetzt nicht mehr traut, wo man früher gar nicht drüber nachgedacht hat. Muss am Nachdenken liegen. Bloß, wo kommt das her? Bei uns in der Familie hat doch nie einer nachgedacht, höchstens mal Thorsten, und das war mir immer zu anstrengend.

Die Markenschildchen sind ausgeblichen und haben ganz komische Farben angenommen, wie manchmal bei Gaststätten, wo sie die Gerichte fotografieren und draußen hinhängen und man nicht weiß, ob sie einen damit anlocken oder abschrecken wollen, grüne Pommes, blaue Soße. Sieht alles aus wie ne missglückte Fälschung von nem Zigarettenautomaten, wie ne polnische Raubkopie oder so. Ich trete einmal dagegen, als hätt ich Geld reingesteckt und es würd nix rauskommen, Reflex von früher, wir haben auch gegengetreten, wenn was rauskam, und kam ja immer was raus, also hatten wir eigentlich keinen Grund. Ich fass sogar ins Ausgabefach rein, liegt alles Mögliche drin. Elpe-Dreck. Irgendwas klebt. Für einen Moment hab ich mich gar nicht geekelt. So wie früher, als Kind, als man mit sonstwas rumgemanscht hat. Und wie früher wisch ich mir die Hand an der Hose ab.

Der Automat ist jedenfalls so tot wie das olle Kulturhaus. Bloß deshalb hatten sie den ja da hingestellt, später, als da denn die Kneipe drin war. Das Schild hängt immer noch: USCHIS Dorfkrug. Leuchtet bloß abends nicht mehr. Saufen die jetzt eigentlich alle zu Hause, ich mein, nur noch?

Kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass da die Obermacker von Bresekow drin gewohnt haben, und dass dieser verkommene lütte Park hintendran mit dem Modderloch von Tümpel drin, dass das mal n richtiger Garten war, wo die Gutsbesitzergören drin gespielt haben und wo keiner rein durfte. Erzählt Oma immer von. Bloß ihr Schwiegervater durfte rein, weil er Tierarzt war und nach den Pferden gucken musste. War anscheinend ne Ehre, na ja. Und dass da mal n Flugzeug reingestürzt sein soll, in den Tümpel. Im Zweiten Weltkrieg. Das hab ich ihr irgendwie nie geglaubt. Das konnt ich mir gar nicht vorstellen, wie das da reingepasst haben sollte. Na ja, ist ja vielleicht nicht direkt versunken, wie das mir nu wieder vorschwebte. Irgendwie passiert doch nie was richtig.

Und jetzt? Ich kann doch jetzt nicht zurück in meine Karnickelbuchte da oben, ich dreh durch. Aber ich kann auch schlecht wie Eckensteher Nante hier mitten auf der Plaza kleben bleiben. Die hängen bestimmt schon alle hinter ihren Gardinen. Wahrscheinlich wissen die gar nicht, wer ich bin. Segg eis, weckern is dat denn? Is dat nich de Dochter von … Ist sie nicht, ätsch. Wieso muss man immer irgendwas von irgendwem sein? Die Tochter, die Schwester, die Freundin von — und zu.

Seit fünf Minuten versuch ich, irgendeine Richtung einzuschlagen, irgendeine. Aber immer, wenn ich losmarschieren will, denk ich, nein, da lang nicht. Schlussendlich ist es vielleicht ganz egal, weil die hier alle ganz plötzlich ausgestorben sind und ich die letzte Bewohnerin von Bresekow bin, und das ist das letzte ›von‹, und alle Wege gehören mir. So sieht das jedenfalls aus.