Später, als Friedhelm dann bei der ZBO in Anklam war, hab ich mir öfter Sorgen gemacht. Da ging das doch nie ohne ne Buddel Schluck ab, im Prinzip war das bei uns in der Provinz schlimmer als in der Großstadt. Der ganze Betrieb war ja verrufen als Auffangstelle für solche, die sonst nix taugen. WER NIX WILL UND WER NIX KANN, DER GEHT ZUM BAU ODER ZUR BAHN. Ich hab mich immer geärgert dadrüber: als ob das nicht eine hochverantwortungsvolle Aufgabe wär, ein Haus zu bauen. Ich hab Friedhelm bewundert dafür, dass er das kann, und immer ordentliche Arbeit, kein Pfusch, das würd ihm total gegen den Strich gehen. Wenn er was macht, dann macht er das auch richtig. Auch zu ZBO-Zeiten, er hat keine schiefe Wand gemauert. Aber ich hatte Angst, dass er da auf die schiefe Bahn gerät. Die meisten da waren doch schon mittags mit lang. Und Friedhelm hatte auch so manches Mal ne Fahne, wenn ich von der Arbeit kam. Aber das war doch gang und gäbe damals, doch nicht bloß aufm Bau, da hat auch so manche Verkäuferin ihren Flachmann in der Tasche gehabt. Sehen wollt das nie einer, getuschelt wurd immer. Bis das dann irgendwann nicht mehr zu übersehen war, und dann hat man sie zur HO-Leitung zitiert, und da wurd dann» ein ernstes Wörtchen «mit ihr geredet, oder sie wurd in ne andre Verkaufsstelle versetzt, FLEISCH- UND WURSTWAREN, woandershin abgeschoben, wo den lieben Kolleginnen dann eingeschärft wurde, auf sie aufzupassen, was man den lieben Kolleginnen natürlich nicht zweimal sagen brauchte, oder sie musste gleich als Klofrau gehen, das war so der letzte Notnagel. Rausschmeißen ging ja nicht. Bei uns musste niemand auf der Straße sitzen. Durfte er ja auch gar nicht. Romy hat mich mal gefragt, wann denn eigentlich die ganzen Leute einkaufen sollten, wenn alle von morgens bis abends gearbeitet haben.
«Haben sie ja nicht.«
«Ja, aber offiziell«, hat Romy gesagt.
Keine Ahnung. Friseurbesuch während der Arbeitszeit war nicht offiziell, aber normal. Es ging doch immer bloß darum, sich nicht erwischen zu lassen, und nicht darum, irgendwas geheim zu halten. Wussten ja doch alle Bescheid. Mit dem Saufen genauso.
Und ich glaub, das war auch gar nicht sone Angst um Friedhelm, die ich da hatte, sondern mehr wegen den Leuten. Das konnt ich nicht vertragen, dass er angetrunken im Kindergarten aufkreuzt, um Romy abzuholen. Ich wollt nicht, dass die so was über meinen Mann sagen. Die Maurer, ja ja. Reichte schon, wenn die so über meine Eltern redeten, und das stimmte ja. Die haben gesoffen. Bloß wieso, da hat nie einer nach gefragt. Ich auch nicht. Ich hab das nicht kapiert, meine Mutter, dass die so schwach war. Dass die sich von dem Ollen verkloppen lässt und sich dann auch noch das Saufen von dem angewöhnen. Dass sie nicht mal versucht hat, ihm das abzugewöhnen.
Das wird ja mit dem Alter schlimmer, sagt man. So weit wollt ich das gar nicht erst kommen lassen. Was hab ich auf ihn eingeredet! Ich hab gedacht, das hilft, wirklich! Oder die andere Masche: Funkstille. Bock und Auszug ausm Schlafzimmer. Hilft alles nix. Er kommt dann an und lässt die Ohren hängen und entschuldigt sich und:»Ick weiß gar nich, wat du hast«, und:»Sonja, nu muss uch ma wieder gut sein«, ja, und dann ist eben auch wieder gut, bis zum nächsten Mal.
Und dann kam die Zeit, wo ich dachte, nun wird wirklich alles gut. Das war, als Friedhelm zum Glauben kam. Und das war eigentlich eine schlimme Zeit, für ihn. Als er das erste Mal diese Depression hatte. Wie aus heiterem Himmel, wusste doch keiner, wo das herkam, am wenigsten er selber. Komisch, ich dachte, das müsste irgendeine ganz klare Ursache haben. Ich wusste gar nicht Bescheid. Nur, dass das was Seelisches sein musste. Dass da vielleicht ein Seelsorger helfen könnte. Aber ich dachte, wenn ich damit ankomm, dann zeigt er mir n Vogel, zu der Zeit. Wann war das? Romy muss so neun oder zehn gewesen sein. Ich hatte sie einfach zur Christenlehre geschickt, obwohl Friedhelm dagegen war. Oder es war ihm egal. Er hatte mit Kirche und so nix am Hut. Obwohl er das von zu Hause aus auch kannte, aber er sagt, er hat das gehasst, zum» Paster «zu müssen, zum Konfirmandenunterricht, und da noch was zu lernen. Schule war ja schon schlimm genug. Und dann gibt es aber so ein schönes Bild von ihm, zum Schießen, wie er da ganz brav in seinem Konfirmandenanzug schief im Tulpenbeet steht, er nach links, die Tulpen nach rechts. Oder umgekehrt, von ihm aus gesehen.
Wir haben kirchlich geheiratet, weil ich das so wollte, obwohl wir da erst noch zum Eheunterricht mussten. Und Friedhelm ist brav mit mir da hingegangen, alles mir zuliebe. Weil das für mich erst die richtige Hochzeit war. Obwohl sich schon alle aufm Standesamt die Augen ausgeheult hatten. Das fand ich unmöglich. Das war da sowieso noch so ein Zirkus, weil wir unsere Ausweise vergessen hatten und unsere Eltern dann ihre vorzeigen mussten, und ich weiß noch, wie mein Vadder sagte:»Dat is mine Dochter. «Aber wie wir dann gleich hinterher in die Marienkirche sind und der Hochzeitsmarsch gespielt wurde und wir dann vorm Altar auf diesen schön geschmückten Hochzeitsstühlen saßen — da kamen mir bald die Tränen, da wusst ich auf einmal, das ist jetzt für immer und ewig. Sonst braucht man ja nicht heiraten, oder.
Wir haben Romy dann als Baby auch gleich taufen lassen, das heißt, nicht gleich, sondern erst über ein halbes Jahr später, weil Friedhelm das partout nicht wollte und gefragt hat,»wozu dat denn noch«. Und meine Oma auf der andern Seite, die hat ja die ganze Zeit schon gedrängelt, dass das Kind nun endlich mal» dööpt warn mööt«, die hat das gar nicht verstanden, dass wir da erst noch groß drüber nachdachten. Hätt ich auch gar nicht, wenn Friedhelm nicht auf einmal so stur gewesen wär. Da hab ich mich denn erst mal gefragt, wieso ich das eigentlich unbedingt will. Und ich konnt das gar nicht so genau sagen. Bloß, dass mir nicht wohl dabei gewesen wär, Romy nicht taufen zu lassen. Man will doch nur das Beste für sein Kind. Vielleicht war das so was wie sicher ist sicher. So klar wie heute war mir das noch lange nicht. Ich fand das eben einfach richtig. Und dann haben wir das auch gemacht, weil ich das so wollte. Und Friedhelm musste mit und versprechen, sein Kind im christlichen Glauben zu erziehen. Heute denk ich, das war auch gemein von mir, ihm immer alles so überzustülpen.
Und ich war das ja auch, die dann bei Arndt angerufen hat und gefragt hat, ob mein Mann nicht kommen kann, dem gehts schlecht. Und der hat sofort ja gesagt, ohne groß zu fragen, dafür bin ich ihm heut noch dankbar. Und Friedhelm, der hat auch ja gesagt. Und daran konnt ich schon sehen, wie weit es mit ihm war. Dass er wirklich Hilfe wollte, egal, woher. Mit meinem Vadder war das genauso. Als der im Sterben lag. Als ich diese Angst in seinem Gesicht gesehen hab, seine hohlen Augen, die mich immerzu angeguckt haben, als wenn er mir was sagen wollte, aber er konnte ja nicht mehr. Ich weiß nicht, manchmal kam er mir auch ganz weit weg vor, wie schon nicht mehr ganz hier, aber eine Angst war das in diesen Augen, ich weiß ja nicht, aber als wenn er sonstwas gesehen hat. Und dann hat er bloß genickt, als ich ihn gefragt hab, ob ich für ihn beten soll. Er hat bloß meine Hand gedrückt und ganz doll genickt.