«Wer? Der Schöne Roland?«
Ich glotz ihn an.»Woher weißt du das?«
«Na ja …«
«Hast du das etwa gewusst?«
«Quatsch. Hast du doch selber gesagt. Mensch, Hartmut!«
Sein Schnaps steht immer noch da. Trink ich den eben. Knall ich eben das Glas aufn Tisch, na und?» Noch einen!«
«Sag ma, musst du nich morgen in deiner Schule antreten?«
«Schule? Geh ich nich mehr hin! So eine Scheiße! So eine Sauerei, Mann! Der hat die vergewaltigt! Nu guck nich so! Ja, ich bin ja schon leise. Mann, einfach so, nachm Dorffest. War doch erster Mai gewesen. Erst Tanz in den Mai, nächsten Abend noch mal. Die is doch zu so was nich hingegangen, Ingrid, normalerweise. Aber wie wir hinkamen, stand sie schon an der Bar. Und hat einen Schnaps nachm andern gekippt. Und ich wunder mich noch, aber dann war sie auf einma weg. Wir sind noch ne ganze Weile geblieben. An Ingrid hab ich gar nich mehr gedacht, hatte ja eh keinen Zweck. Aber als Roli nach Hause is, muss er sie irgendwo erwischt haben, er sagte, sie stand da einfach rum, im Park. Ich kann mir das nich vorstelln. Ich mein, dass die das freiwillig gemacht hätt. Hat Roli auch nich gesagt. Ich weiß nich mehr genau, was er gesagt hat. Bloß noch: ›Jetzt weiß sie ma, wie das is!‹ — Ich war wie vorn Kopp gestoßen. Und dabei dacht ich doch, dass der auf Britta scharf wär, und das war ja nachher auch das Traumpaar, der Schöne Roland und die Flotte Britta. Mann! Und dann hatte er den Unfall. — Eine Scheiße! Was sollte denn das bloß mit Ingrid? Ausgerechnet. Er — er konnte doch jede — haben, sogar — Brit-ta!«
Ich heul nicht, ich heul doch gar nicht, was kloppt er mir jetzt auf die Schulter, Friedhelm? Ist doch bloß der Schnaps, ist doch bloß dieses Teufelszeug …
«Is gut, Hartmut«, sagt er.»Dat musste ma raus.«
«Ick konnt nix sagen! Das war doch Roli! Und dann war er tot!«Da hab ich auch geheult, da brach für mich ne Welt zusammen. Als das hieß, Roli ist tot, da dacht ich, das geht doch gar nicht. Ich hab drei Tage nur in meinem Zimmer gesessen und geheult. Ich wollt gar keinen sehen, ich wollt auch nicht, dass das einer sieht. Als ob man nicht mal heulen kann, wenn einer stirbt. Wenn auf einmal alles vorbei ist. Wenn man weiß, man sieht den nie wieder.
«Wie isn dat eigentlich passiert damals? Ick weiß bloß, dat dat mitm Moped war, oder? Wann warn dat noch ma?«
«Siebzig. April siebzig. Er wollt doch bloß n Trecker überholen, da kurz hinter Schmalditz, wo der Weg nach Melzin reingeht. Er is grad von Britta gekommen, sie hat das später ma gesagt. Jedenfalls, er is schon am Überholen, als der Trecker links abbiegt, in den Melziner Weg rein, der wollt da aufn Acker. Und ob der nu geblinkt hat und Roli das nich gesehn hat, oder ob der wirklich nich geblinkt hat — der hat natürlich hinterher gesagt, er hat geblinkt, was sollt der auch andres sagen, konnt ja keiner mehr beweisen. Roli war tot. Der ist voll über ihn rüber, das große Treckerrad. Über seinen Hals, haben sie gesagt. Keine Chance.«
Friedhelm verzieht das Gesicht. Ja. Das mocht sich keiner vorstellen.»Der arme Roland«, hieß das dann immer.
«Und Ingrid? Hat die nie wat gesagt?«
«Nee. Vielleicht hätt sie ja noch. Aber nu — hat die sich vielleicht auch gedacht, dass sie nem Toten nix nachreden will.«
«Wieso nachreden? Na, ick glaub, ick versteh dat schon. Wieso die nix gesagt hat. — Aber eins versteh ick nich, Hartmut: Ick mein, dat du nu nix gesagt hast — vielleicht war dat am Ende sogar besser so. Aber dat du zu ihr nix gesagt hast, dat du nich zu ihr hin bist … Wieso hast du denn mit ihr nich geredet, wo du als Einzigster Bescheid wusstest. Wieso — Mann, Hartmut, wieso hast du sie denn so im Stich gelassen?«
«Ich?«
«Nu reg dich nich uff! Aber ick mein ma, du hättst doch wenigstens mit ihr reden können.«
«Mit ihr reden? Friedhelm, du verstehst das nich! Das ging nich!«
Hätt ich mir doch lieber sonstwas abgebissen damals. Ich mocht sie doch nicht mal mehr angucken. Mit ihrem Bauch. Irgendwie war sie auch tot für mich. Ingrid. Die arme Ingrid. Nee, das hab ich nie gedacht.
«Wieso denn nich?«
«Ich weiß auch nich — sie war so anders …«
Jetzt kippt er sich doch noch einen ein. Und mir nicht. Die Haustür klappt. Friedhelm zuckt mit dem Kopp zur Tür. Schiebt mir schnell das volle Glas rüber, plempert über. Trink ich aus. Die Tür geht auf, und seine Tochter kommt rein. Guckt mich an. Was guckt die mich so an?
«Na, dann werd ich ma«, sag ich und steh auf. Muss mich ma kurz abstützen.
«Geht’t?«, fragt Friedhelm.
«N’Abend«, sagt seine Tochter jetzt. Romy. Heißt die doch, oder?
«Is — Ella — schon im Bett?«, frag ich.
«Weiß ich nicht«, sagt sie.
Ich geh raus.»Is — doch schon spät.«
Draußen muss ich erst ma kurz stehenbleiben. Bloß ma kurz. Mann, muss ich pissen, und dann noch der Regen. Muss ich ma fix um die Ecke ma fix. Wie ich am Fenster vorbeikomm, ist ja nu ma offen, das Fenster, wie ich vorbeikomm, hör ich:»Papa. Bist du besoffen?«Nee, der nicht. Der Papa.
ROMY
Soll ich jetzt einen Rock anziehen oder nicht? Was heißt ›einen‹: den, den einzig akzeptablen, den ich besitze, mit Taschen. Ella zieht garantiert keinen an; so ein Kleidungsstück käme ihr nicht nur nicht in den Schrank geschweige denn an den Leib, es käme ihr wahrscheinlich nicht mal über die Lippen, genauso wenig wie ›Bluse‹ oder ›Strumpfhose‹, zumindest nicht ohne Empörung und Notwehr. Dabei verhält es sich nicht so, dass da ein unmögliches Bild entsteht, wenn man sich Ella darin vorstellt. Im Gegenteil. Das ist es vielleicht gerade. Ich glaub, sie will auf keinen Fall so werden wie ihre Mutter, und sei es um den Preis, das genaue Gegenteil zu werden. Niemand will werden wie seine Mutter. Da kommt es, verbreiteter mütterlicher Irrglaube, gar nicht auf die Mutter an. Vielleicht, weil man insgeheim spürt, dass man als Mutter schon von vornherein verloren hat, und zwar gegen die eigenen Kinder, und alle schmähenswerten Eigenschaften nur aus dieser abgeschriebenen Position resultieren beziehungsweise überhaupt erst zu dieser geführt haben, Eigenschaften, deren Keime man hin und wieder schon in sich selber zu wachsen beginnen fühlt, und die Angst: Am Ende kriegen sie einen. Am Ende wird man noch selber Mutter. Oh beklemmendstes aller Zukunftsbilder.
So weit meine ergebnislosen Betrachtungen im Vorfeld des sogenannten Dorffestes, womit ich keineswegs vom ursprünglichen Problem abgekommen war, denn auch wenn man kein Anhänger der Theorie ist, dass alles mit allem zusammenhängt, ist doch klar ersichtlich, wie die Rockfrage mit zukünftiger Mutterschaft zusammenhängt und also lautet: Soll ich jetzt wirklich einen Rock anziehen — das Wort bekommt geradezu eine metaphorische, die von Ella vielleicht intuitiv erfasste Bedeutung — und mich damit einreihen in die Horde, oder Heere, herrenloser Weibchen, die sich alle im gleichen abgegrabbelten Signalbaukasten Paarungsbereitschaft & Fruchtbarkeit bedienen, soll ich» ganz normal «werden und schließlich doch den» ganz natürlichen «Wunsch entwickeln, zum Fortbestand der Menschheit beizutragen? Aber wir leben in modernen Zeiten, und ein Mann ist nicht mehr gleichbedeutend mit einem Kind, außer in Personalunion, und überhaupt, was für ein Mann denn? Davon kann ja hier wohl kaum die Rede sein.
Außerdem bezweifle ich, dass irgendein männliches oder anderes Wesen an meinen grün gemusterten Strumpfhosen Gefallen findet, ich dafür umso mehr. Denn eigentlich ging es ja gar nicht um den Rock. Ich habe Strumpfhosen schon als Kind geliebt, nur dass man da noch nichts dadrüber anziehen brauchte, sie hielten, was sie versprachen, nämlich Strumpf und Hose in einem zu sein. Und noch lebten wir in seliger Unkenntnis der Leggins, die uns nur wenige Jahre später zusammen mit ihren degenerierten Artgenossen Radler- und Steghose heimsuchen sollte. Ich schwärmte nur deshalb für den Prinzen in den Märchenfilmen, weil er bestrumpfhost war, ein Bein grün, ein Bein rot. Bei der Prinzessin konnte man das ja leider nicht sehen, und als ich Mama mal fragte, was die denn unter ihren langen Röcken anhätten, sagte sie glatt:»Nix. «Das war ihr wohl so rausgerutscht, denn als sie mein empörtes Gesicht sah, fing sie an, schnell was von Unterröcken und Unterhosen zu erzählen, aber ich glaubte ihr kein Wort. Die Prinzessin trug keine Strumpfhose, soviel stand fest, und also auch, dass ich keine Prinzessin mehr sein wollte. Insofern ist die Strumpfhose, jedenfalls in ihrer Urform, nicht in der linoleumfarbenen Abart von Nylon, Perlon, Dederon oder Loch-an-Loch-und-hält-doch, ein durchaus subversives, die Signalwirkung des Rockes geschickt brechendes Utensil, das sich zudem weder den Vorwurf des Ent- noch des Verhüllens gefallen lassen muss, geradezu ein Schutzanzug, was man vom Rock nicht behaupten kann, mit dem sich doch wohl noch immer allgemein und instinktiv die Vorstellung verbindet: nix drunter.