Ich weiß nicht, was für eine Vorstellung sich mir bei diesen Anziehüberlegungen mit einer so nichtswürdigen Veranstaltung wie dem Dorffest auf einmal verbunden hatte, aber sie versickerte sehr schnell in den Niederungen der Modder, durch die ich mit den beiden hierher gelatscht bin. Es regnet seit Tagen,»Katzen und Hunden«, wie Paul sagte, aber auch:»Ich bin nicht aus Zucker«, als ich ihm den Regenschirm anbot. Ich musste grinsen. Wie kann er so lügen? Ella kam mit mir unter den Schirm, hakte sich bei mir ein, und wie wir da so im Slalom über die ausgestorbene Elpe und die Dorfstraße stapften und wenigstens den größten Pfützen auszuweichen versuchten, Zucker-Paul voran, hatte ich beinah Angst, der Regen könnte ihn tatsächlich wegwaschen, auflösen, und wie konnte ich mir sicher sein, dass das überhaupt noch Paul war, der da als unkenntliche Kapuzengestalt in immer weiterem Abstand vor uns ging, in den Regen und die Dunkelheit hinein?
Durch meine wie üblich undichten Schuhe — es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, wie Leute zu angeblich wasserdichten Schuhen kommen — schien mit zunehmender Weglänge nicht nur die Nässe förmlich in mich einzusickern, sondern mit ihr auch ein heilloses Gefühl von — na ja, Verzweiflung klingt völlig übertrieben, Vergeblichkeit erst recht, aber etwas in der Art, und etwas Wohlbekanntes, wie ein Rückenschmerz, den man langsam und unabwendbar heraufkriechen spürt, ein alter Feind, der durch jahrelange Bekanntschaft fast zum Freund geworden ist und auf einen irreparablen Haltungsschaden hindeutet. Für einen Augenblick fühlte ich das fast unwiderstehliche Verlangen in mir, mich lang in die Modder zu schmeißen. Aber: Haltung. Contenance. Seit Jahren bin ich mit mir selber uneins, ob ich genau das zum Prinzip meines Verhaltens machen sollte: sich rein gar nichts anmerken lassen, oder das genaue Gegenteiclass="underline" hemmungsloses Rauslassen, noch bevor es zu irgendwelchen Anmerkungen kommt. Das Ziel beider Wege ist das gleiche, nämlich Unangreifbarkeit. Zum Beispiel träume ich seit mindestens genauso langer Zeit ja auch schon von der unangreifbaren Frisur, aber das ist ein anderes Thema. Mein ganzes Problem liegt in der absoluten Entscheidungsunfähigkeit, in diesem wie auch in jedem anderen Fall, also in der vermeintlichen Vermeidung angreifbarer, weil exponierter Positionen, weshalb es ständig zu halbherzigen Mischformen der allerangreifbarsten Art kommt. Man nehme ja nur mal diesen Rock, diesen verschossenen orangen Cordrock, weder kurz noch lang, weder weit noch eng, weder Rock noch sonst irgendwas, wie er verklemmt an der Strumpfhose klebt und sich wie zur Strafe bei jedem Schritt unförmig nach oben schiebt und ausbeult. Was in aller Welt wollte ich damit bezwecken? Na wenigstens muss ich mir nicht vorwerfen, mich des neuesten Modeauswuchses der Sorte Weder-Fisch-noch-Fleisch schuldig gemacht zu haben, dieses abartigen Rock-über-Hose-Tragens. Wenn ich auch schon so manches Mal das Gefühl hatte, unter den Blicken Katharinas, Nadines und auch Susannes, mit meinen Klamotten den Gipfel der Lächerlichkeit erklommen zu haben, so muss ich doch neuerdings befriedigt feststellen, dass mich Katharina, Nadine und Susanne auch darin überholt haben. Ich meine, was wollen sie damit bezwecken, außer wie das letzte Hippierelikt auf der Flucht auszusehen? Das Ganze läuft doch letztlich auf Folgendes hinaus: Ich will einen Rock anziehen, aber trau mich nicht, meine Beine zu zeigen, schon gar nicht meine nackten Beine im Sommer, also zwänge ich den luftigen Sommerrock über die dicke Winterjeans, im Winter. Wie erbärmlich! Nur mildert das auch nicht den Blick, mit dem ich selbst meinem Kleiderschrank neuerdings gegenübertrete, nämlich seit ich festgestellt habe, dass sein Inhalt dringend der Generalüberholung bedarf, und der Zeitpunkt dieser Feststellung fällt zufällig ungefähr mit Pauls Erscheinen hier zusammen. Sein Erscheinungsbild wiederum versetzt mich jedes Mal derartig in Entzücken, dass es mich fast beschämt, gerade weil daran gar nichts Besonderes oder Gewolltes ist, es ist auch nicht diese aufgesetzte Schlampigkeit. Es ist einfach — Paul. Man könnte es glatt zu einem Adjektiv machen, very paul, eins, das nur auf ihn zutrifft. Seine zwei Hosen, die eine schwarz, die andere braun, keine Jeans, haben beide diverse Löcher am umgeschlagenen Saum, die braune sogar eins am sehr oberen Oberschenkel, das aussieht wie ein Brandloch und ab und zu die Farbe seiner Unterhose erkennen lässt. Als ich das zum ersten Mal sah, wäre ich fast so hirnverbrannt gewesen, ihn darauf hinzuweisen, ich meine, dass er ein Loch in der Hose hat. Das Wort ›Unterhose‹, zumal es sich dabei nicht um irgendeine, sondern um seine handelt, käme mir bei ihm vermutlich gar nicht über die Lippen. Oder vielleicht doch, vielleicht leichter als bei jedem anderen. Da ist eine Offenheit bei ihm, geradezu um ihn … Die nicht unwesentlich zu meinem Taumel beiträgt. Wie auch seine bis knapp über die Ellenbogen gekrempelten Hemden, seine ganz einfachen und einfach perfekt sitzenden T-Shirts, die ihren Schnitt direkt aus den Sechzigern herübergerettet zu haben scheinen, und über seine Frisur muss man ja ohnehin kein Wort verlieren: very paulmccartney. Kurzum: all das ist mir hier noch nie untergekommen, nicht mal in Ansätzen, nicht mal bei Tobias, und das ist so was von zum Alle-Hoffnung-fahren-Lassen, dass man auf der Stelle konvertieren und den Karmeliterinnen beitreten möchte, was einen zumindest des Kleidungsproblems auf ewig enthöbe. Ich weiß, dass ich mich da nicht so reinsteigern darf. Nicht in etwas, das keine Woche mehr währt. Aber habe ich vielleicht was Besseres zu tun?
Spätestens als wir eben das Zelt betraten, das sie mitten auf der Wiese neben dem Sportplatz aufgebaut haben und das uns schon von weitem wie eine etwas zweifelhafte Oase weiß aus der dunklen Regenwüstenei entgegengeleuchtet hatte, kam ich mir völlig overdressed vor, was umso seltsamer war, als meine Schuhe und auch das untere Drittel meiner grünen Strumpfhosen sich eine Dorfmatschtarnung zugelegt hatten, ein Spritzer, kein Spritzer. Die offensichtlich bereits angesäuselten Anwesenden starrten denn auch gleich auf meine Beine, und ich weiß nicht, welchen Abschnitt davon sie am unzumutbarsten fanden. Aber so demütigend wie auf unserem ersten Herbstball ist es nun auch wieder nicht, als wir, endlich in der neunten Klasse angekommen und teilnahmeberechtigt, uns aufgeregt fragten, was man bloß zu diesem Ereignis anziehen sollte, immerhin war es ein ›Ball‹, und irgendwer uns einredete, was heißt irgendwer, Tamara mit ihrer Vornehmheitsmacke, wir sollten dafür unsere Konfirmationsklamotten noch mal reaktivieren. Und so standen wir dann da, in die Ecke gedrückt, in unseren elend langen Röcken und Jabotblusen und glotzten auf die Jeansbeine, die zu den Takten von Wolfgang Petry und Metallica rumhüpften. Doch irgendwann war es uns egal, und wir hüpften mit. Irgendwann ist einem alles egal, und ich gäbe viel dafür, wenn sich diese Schwelle bei mir endlich mal stark absenken ließe.
Trotzdem bin ich froh, hier zu sein, mit Ella, mit Paul. Was schon als mittelgroßer Triumph zu verbuchen ist, denn ich hätte nicht gedacht, dass Ella ja sagt, als ich sie fragte, ob wir mit Paul zum Dorffest gehen wollen. Zum Dorffest! Noch vor einem Monat wäre mir das nicht im Traume eingefallen. Nun ja, die Dinge ändern sich. Paul hatte mich gestern nach der großen Pause, als es schon geklingelt hatte und wir gen Eingang schlurften, gefragt:»Wir gehen zum Fest morgen?«, es klang mehr wie die Wiederholung einer bekannten Tatsache, und ich bloß:»Welches Fest?«Mir wäre auch nie eingefallen, das Dorffest als ›Fest‹ zu bezeichnen, die Betonung liegt auf ›Dorf‹. Die Betonung liegt auf GOLDKRONE. Aber ich wusste, es wäre sinnlos gewesen, Paul das ausreden zu wollen, er wäre auf jeden Fall hingegangen, so weit kenne ich ihn immerhin schon. Mir blieb wieder nur, mich zu wundern, woher er eigentlich diese Unerschrockenheit, diese Nichtabschreckbarkeit nimmt. Sie hat eindeutig was mit der Offenheit zu tun. Als wäre er nicht ganz von dieser Welt. Aber zum Grübeln würde ich hinterher, im großen grauen Danach, noch genug Zeit haben, und weil das in naher Zukunft ist, sagte ich ohne Überlegen na gut. Nach der Elpe war ohnehin kein Platz mehr für Zimperlichkeit. Und vielleicht hat Ella was ganz Ähnliches gedacht, vielleicht wollte sie nicht noch einen Abend allein zu Hause am Fenster stehen. Vielleicht machte es ihr mehr aus, als ich dachte. Und Pauclass="underline" hatte rundheraus abgelehnt, als Beate und die anderen ihn in derselben großen Pause, und zwar noch vor meiner Zusage, gefragt hatten, ob er heute Abend mit zur Disco nach Schmalditz käme. Allein das war mir schon Genugtuung sondergleichen, zumal sie es natürlich gar nicht erst für angebracht gehalten hatten, etwa auch mich zu fragen. Und dann, wie er es tat! Das euphorisierte mich dermaßen, dass ich dachte, es würde für die nächsten drei Jahre reichen oder mich zumindest den Rest der Schulzeit in einer goldenen Gemütsruhe und lächelnden Bedürfnislosigkeit überstehen lassen. Dass dem nicht so ist, merke ich Wankelmütige zwar schon einen Tag später, aber dieser Moment wird mir bleiben: wie er einfach nein sagte. Nur:»Nein«, nichts weiter. Und sein» Ja«, als sie ihn daraufhin fragten, ob er schon was Besseres vorhabe. Das muss auch sie derart beeindruckt, fast eingeschüchtert haben, dass sie nicht mal wissen wollten, was. Keine Ahnung, was er dann gesagt hätte. Aber keine Minute später wusste ich, dass er lieber mit mir zum Dorffest geht, und ich konnte mich nur nicht entscheiden, ob nun die Konkurrenz damit seine tiefste Missachtung oder ich seine höchste Gunst geerntet hatte. Und wie immer, wenn ich mich nicht entscheiden kann, nehme ich beides.