«Hi. «Auf einmal steht Pauls Vater neben uns. Paul sieht ihn an, als müsste er sich erst erinnern, wer das ist.»Dad!«, sagt er.»Please, go home. Stop your fucking second hand life!«
Sein Vater verliert sein Lächeln, ganz plötzlich, als wäre es ihm vom Gesicht gefallen. Aber überrascht wirkt er nicht. Jedenfalls nicht so überrascht wie wir.»Hey«, sagt er bloß.»Don’t you tell me what I gotta do!«
Paul drängt sich an ihm vorbei.»Research! You don’t know anything!«
«And you? Do you know somethin’?«Er springt kein bisschen aus dem Anzug. Paul bleibt nicht stehen, ruft ihm bloß zu, ohne sich umzudrehen:»At least I know somethin’ about ’er. «Wobei er merkwürdigerweise das ›I‹ betont. Solche Sachen fallen mir immer auf.
Wir rauschen förmlich an Ecki und Co. vorbei, Paul voran, Ella und ich hinterher.
«Mannomann, die hamt aber eilig! Flotter Dreier, wa?«, ruft Ecki uns nach. Oder irgendeiner. Irgendein Idiot.
INGRID
Du wolltest da nicht hingehen, es wäre dir nie in den Sinn gekommen, genauso wenig wie heute, es war genauso unmöglich. Es hat sich nichts geändert. Das beruhigt dich, denn darin kennst du dich aus, in Unmöglichkeiten. Schließlich lebst du in einer. Aber du warst genauso alleine wie heute abend, und deine einzige Furcht war, jemand könnte kommen und es dir wegnehmen, dein Alleinsein. Endgültig, denn den Verdacht hegtest du seit Längerem. Dass da etwas eingerissen war. Dass du etwas hattest einreißen lassen, mehr als ein Häutchen, und durch den Spalt zwängten sich Gesichter, die dir fremd vorkamen, weil du sie nie hattest sehen wollen, so widerwärtig genau. Du hattest doch diese Fähigkeit gehabt: jemanden zu erkennen, von Weitem, ohne in sein Gesicht sehen zu müssen. Sobald du ihn erkannt hattest, sahst du weg. Ihn. Das wolltest du dir lange zugute halten: dass du ihm nie in die Augen geguckt hast, oder fast nie. Dass du dir nie in die Augen gucken ließest, in die Karten, nicht wahr. Nur Luschen, anyway. Deine Mutter wusste Bescheid, auch so. Auch sie glaubte nicht mehr an ein passables Blatt. Aber offenbar an die Möglichkeit eines Bluffs. Sie kannte deinen Partner nicht. Und doch hättest du mit keinem anderen spielen können. Es gibt so ein Wort, du kanntest es nicht: satisfaktionsfähig. Das war keiner, du sowieso nicht. Er auch nicht. Aber er war wenigstens größer als du. Es war gar kein Spiel. Es war ein Duell. Am Ende war einer tot. Zuerst dachtest du, du wärst es. Auch später noch verließ dich der Argwohn nie ganz. Es gab keine Zeugen. Keine Sekundanten. Sogar er war ohne alle seine angetreten. Fast fühltest du dich bestätigt in deiner Wahl. Fast glaubtest du, es hätte eine gegeben.
Deine Mutter versuchte, dir in die Augen zu sehen, obschon das Licht längst aus war, wenn du das Haus betratest, wenn du aus der Dunkelheit in die Dunkelheit kamst, an die deine Augen ebenso gewöhnt waren wie ihre. Sie saß in der Küche und tat so, als hätte sie nicht auf dich gewartet. Sie wusste, du würdest sie nicht fragen. Einmal tatest du es:»Was sitzt du denn hier?«
«Ach«, sagte sie, als schnappe sie nach Luft,»ich wollt noch nich ins Bett.«
«Ich auch nicht«, sagtest du.
Du glaubtest nicht, dass sie sich Sorgen machte, dass sie befürchtete, dir könnte» etwas passieren «im nächtlichen Dorfe Bresekow. An dir ging doch alles nur vorbei. Obwohl sie unruhiger schien als sonst, regelrecht aufgekratzt manchmal. Als wittere sie etwas, als nehme sie etwas anderes an dir wahr. Etwas, das sie in Aufregung versetzte wie ein junges Mädchen, das sich allen möglichen bunten Hoffnungen hingibt. Das schlaflos und sinnend im Dunkeln sitzt und nicht merkt, wie viel Zeit schon vergangen ist.
Sie erschreckte dich jedesmal. Du wusstest, sie würde dort sitzen, immer auf dem gleichen Platz, die Arme auf dem runden Tisch. Trotzdem. Es war jedesmal, als risse der Spalt noch ein bisschen weiter ein, du zucktest zusammen. Als versuchte auch sie noch, ihren Kopf hindurchzuzwängen, und gewaltsamer als er. Er hatte den Spalt nur zufällig entdeckt und sah ohne Neugier hindurch, sah gar nicht dich, sondern etwas, was ihm gefiel, für das er die Ursache zu sein glaubte. Furcht. Du fühltest den kalten Boden an deinem Rücken, versuchtest, ihn mit so wenigen Stellen wie möglich zu berühren, Ringer fielen dir ein, das Wort ›Schultersieg‹. Sie baumelten über dir, diese beiden Gesichter im Spalt, wie zwei Luftballons kurz vor dem Platzen. Sie guckten sich an und konnten sich nicht mehr halten vor Lachen. Ihre Lache fiel wie Konfetti auf dich. Du würdest für Jahre erkennbar sein als ein Gast dieser geschmacklosen Feier, für die du erst gar nicht die Einladung ausschlagen konntest, weil es keine gab. Du hattest nicht mal eine Sicherheitsnadel parat. Aber glaubtest du, du könntest platzen lassen, was sich da über dir aufgeblasen hatte, ohne dass es einen Knall gäbe, glaubtest du das wirklich, an jenem Abend? Glaubtest du, du könntest einen Riss wieder zusammenflicken durch deinen bloßen Willen? Glaubst du das immer noch?
Du bist froh, dass Michael und Paul nicht da sind, noch nicht zurückkommen und das Licht anmachen, immer noch wegbleiben, von dir. Und wo könnten sie weiter weg sein als auf diesem — Dorffest, nicht wahr.
Wo hätte er weiter weg sein können als dort, an diesem Abend, nachdem die Demonstrationen überstanden waren, eine Art Faschingsumzug durch Schmalditz, so kam es dir stets vor, ein verordnetes Verkleiden. Monströs, keineswegs eine Demonstration: wofür denn oder wogegen. Ja, du warst für den Weltfrieden, wenn es das war, was sie hören wollten, ja, du warst gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wer nicht. Und, hat es etwas genutzt? Es stellte noch nicht mal eine Demonstration von etwas dar. Wovon denn, es gab doch nichts. Nichts außer dem Vergehen von Tagen, dem Warten auf das Ende der Woche, das Ende der Schulzeit, das Ende des Lebens, nach dem nichts mehr kam. Dafür musste man nicht auf die Straße gehen. Aber man musste.
Und musste man denn auch in den Dorfkrug gehen und gesellig sein und sich Schnäpse genannt» Schlüpferstürmer «ausgeben lassen und sich übers Parkett schieben lassen und sich anfassen lassen unter der blauen Bluse, draußen, im Dunkeln? Nein, das musste man nicht. Aber du wolltest das sehen. Dass man das nicht musste, und aber auch, dass man dafür nicht zu Hause bleiben musste, dass man sich sein Alleinsein nicht wegnehmen lassen musste, indem man es umschmieden musste in Einheitlichkeit oder Einsamkeit. Du wolltest es sehen: dein Alleinsein, ganz und ohne Risse, ohne auch nur eine fadenscheinige Stelle. Du zogst es an und gingst hin. Deine Mutter saß in der Küche und versuchte wieder, in deine Augen zu sehen, aber sie sagte nichts, als du auch nichts sagtest, nur weggingst. Als du wiederkamst, saß sie nicht mehr da. Daran kannst du dich nicht erinnern.
Es war voll, voller als auf jeder Versammlung, diese schwänzte keiner. Das ließ sich keiner entgehen. Dich anzusehen. Du brachtest schon wieder etwas durcheinander. Es war doch kein Plan gewesen. Keiner, von dem einer was gewusst hätte. Also eine Überraschung. Du erkanntest nicht sofort alle, du tratest vom Dunkeln ins Helle, du sahst sofort weg. Ihn konntest du nicht erkennen, also war er nicht da. Es machte dir nichts aus. Aber es brachte dich auf einen Gedanken, den du erst beiseite schobst, in den ersten Schnaps tunktest wie in Vergessen, der dir aber gleich wieder einfiel, als er später doch noch auftrat. Applaus. Wie hätte er fehlen dürfen, der Sohn des Bürgermeisters. Du warst dir sicher, du wärst nie auf diesen Gedanken gekommen, wäre er von Anfang an dagewesen. Hätte er dich von Anfang an nicht angeguckt. Es war kein Plan, gewesen.
«Einen Schnaps, bitte«, sagtest du zum Kneiper, als du dich an die Bar setztest. Zu Eddi, dem Älteren der beiden Storcks, er war dir lieber.
«Frollein Ingrid!«, sagte Eddi Storck.»Na, dat is ja mal ne Überraschung!«Er blinzelte dich an, als könne er dich durch den Qualm nicht richtig sehen, kaum ausmachen, ob du es warst.»Also …«Du hattest den Eindruck, er mochte dich. Trotzdem brauchtest du dir von ihm nichts gefallen lassen.