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Peter hätte dir nicht helfen können. Du hättest ihm nichts erzählt. Dir war wenig peinlich, Gelegenheiten, sich zu blamieren, hat man nur vor Publikum, das hattest du selten. In der Schule machtest du einfach, was von dir verlangt wurde, oder du machtest es nicht, aber beides so ambitionslos, dass es kein Interesse weckte. Du wusstest, dass über dich getuschelt wurde, es wunderte dich ein bisschen, denn du hattest kein Geheimnis. Geheimnisse wurden erfunden, Geschichten, auch über dich und Peter. Für die Jungs existiertest du gar nicht. Das ist nicht richtig. Sie nahmen dich wahr als eine Tatsache, eine Tatsache am anderen Ende der Welt, mit der sie sich nicht beschäftigen mussten, als eine Feststellung, der nichts hinzuzufügen war. Dem kleinen Hartmut hattest du etwas angemerkt, eine Beschäftigung. Aber anfangen konntest du nichts mit ihm. Er sah dich an, und das war hilfreich, denn so wusstest du, wie du seinen Leitstern nicht ansehen durftest.

Dein Körper war dir nicht peinlich, die sich ausmodellierenden Formen, er war nun mal dein Körper, einen anderen gabs nicht, und du konntest nichts Schlechtes an ihm finden. Als du dich ohne Bedenken in der Umkleidekabine vor den anderen Mädchen auszogst, hieß es, du stelltest dich zur Schau. Du trugst keine Miniröcke, erst spät einen BH, du wolltest keine Taschentücher und Socken als Ballast. Du warst vollständig.

Peter fehlte dir, die schläfrigen Gespräche mit ihm, schläfrig auch und besonders am Nachmittag, wenn ihr im Weizen lagt oder in der dumpfen Hitze des Dachbodens, du hörtest ihm zu und musstest nicht viel erzählen, das wenige, was es gab, reichte aus, auch durch eure langen Nächte hindurch. Die Peinlichkeiten konntest du für dich behalten, sie in dir verteilen wie Dinge ohne feste Form. Du kriegst sie nicht mehr zusammen, findest nicht einmal Silben. Das scheint dir ein Beweis für die Richtigkeit deiner Methode zu sein. Der Erinnerung vorzubeugen. Es gibt nur diese eine Ausnahme. Vielleicht, weil du die Versuchung schon wie die Wärme eines anderen Körpers nahe deiner Haut spürtest, versucht warst, doch Worte für Peter zusammenzusetzen, ein paar kurze, böse Sätze, um sie Peters Sprache hinzuzufügen. Vielleicht, weil es sich gar nicht um eine Peinlichkeit handelte, vielleicht, weil du das auch Peter weismachen wolltest. Vielleicht, weil du hofftest, er würde es dir weismachen. Und heilfroh konntest du sein, dass er während dieser ganzen unaussprechlichen Zeit nur ein einziges Mal nach Hause kam, und nur um zu verkünden, es werde zu einer Heirat kommen im Frühjahr, und diese Nachricht das ganze Wochenende und auch die Nachtstunden ausfüllte.

R. M. Sie sprangen dich überall an, in die Bank geritzt, mit einem gemopsten Fitzelchen Kreide an eine Wand geschmiert, in den grauen Sand auf dem Schulhof gezogen, diese Initialen, ein Menetekel. Oft auch ausgeschrieben, dieser Name, an den du dich nie gewöhnen konntest. Roland. Er klang auch nach einem Ort, nach einem Ort nicht halb so interessant wie» Jenseits«. Nichts zog dich dorthin. Er kam dir unbehaust vor, baumlos, eine Mondlandschaft, und beinahe hätte dich gerade das gereizt, hättest du nicht in jeder Faser den Verdacht gehabt, dass der Ort Roland sehr wohl bewohnt sei, von einem einzigen Bewohner, der alles, jedes Staubkorn in diesem Land durchsetzte, der Eindringlinge niemals dulden würde. Ein solcher Ort aber erschien dir nicht neu. Und vermutlich war es das, vermutlich, nicht wahr. Er war größer als du. Von Anfang an wart ihr stumme Verhandler. Ihr habt euch nie betreten. Auch zum Schluss nicht, auch wenn Roland Möllrich kurzzeitig dieser Illusion aufgesessen sein musste. Der Anfang war das Klarste gewesen, weshalb du auch die ganze Zeit über nicht als verwirrt zu bezeichnen gewesen wärest. Beschämt ist etwas anderes.

In den Winterferien war er hinter dir im Wäldchen, dann vor dir. Du warst beim Reisigsammeln für eure gefräßigen Öfen, du hattest Peters Aufgaben geerbt, du kamst ihnen nicht ungern nach. Immerhin etwas. Als Roland Möllrich auf einmal vor dir stand, sich in seinem Schwarz und Braun kaum abhob von den nassen Erlenstämmen, der Dämmerung im Wäldchen, und dir eine Handvoll Zweige hinhielt, hattest du nicht das Gefühl, plötzlich nicht mehr alleine zu sein. Du hattest es stärker als je zuvor. Vage meintest du ein Mopedgeräusch von einigen Minuten oder Stunden vorher im Ohr zu haben. Er lächelte dich nicht an. Sein Land ließ keine Fanfare ertönen. Er hielt dir das Reisig entgegen, lässig, wie etwas, das du verloren hattest. Du nahmst es ihm nicht ab. Du versuchtest, den Spott in seinen Augen ausfindig zu machen, so standet ihr. Bis du die sehr brauchbaren Zweige zu Boden fallen sahst, gegen einen Baum gedrückt wurdest und etwas Unbrauchbares auf deinem Mund spürtest, das deinem eigenen nicht ganz unähnlich zu sein schien, auch in seinen Begierden. Du wehrtest dich nicht, du versuchtest mitzuhalten. Als er fertig war, als die Wärme und die Feuchtigkeit auf deinen Lippen sich in klamme Kälte zu verwandeln begannen, du wie abgerissen zurückfielst in den Februarnachmittag, schlugst du ihn ins Gesicht. Du hattest keine Handschuhe an, das machte dir Mut, auch die Tatsache der Linkshändigkeit, der Schlag kam von unerwarteter Seite auf ihn zu, traf ihn voll. Aber es war ein Reflex, untrennbar verbunden mit dem Vorangegangenen, der dritte Akt einer Tragödie oder Komödie, du wusstest nicht genau, wahrscheinlich hattest du wieder nicht aufgepasst. Dann schlug er dich zurück, mit der Rechten, wie ein durch ungutes Eigenleben verzögertes Spiegelbild, auch ins Gesicht, und du wundertest dich, warum er auf dem Moped keine Handschuhe trug. Kein Klaps, er hatte dich geohrfeigt, wie man eine Frau ohrfeigt, bestraft. Du heultest nicht, du sahst ihn nur an, ihm in die Augen, dieses eine Mal. Kein anderer hätte zurückgeschlagen, dessen warst du dir sicher, jedenfalls nicht aus demselben Grund. Du warst zufrieden. Er hatte dich bestraft für diese Dummheit, für die Dummheit all der anderen dummen Gänse, deren Geschnatter und Flügelschlagen nur dem einzigen Zweck diente, Roland den Fuchs anzulocken. Roland der Fuchs schnappte sie sich aus Überdruss. Und du schämtest dich. Nicht für Brigitte, nicht für Christa oder Bärbel, so etwas war dir unbekannt. Du warst keine Gans. Es war schlimmer. Du träumtest Artfremdes, Beschämendes, Zähne, die sich in deinen Hals bohrten, dein Bett eine Sickergrube für Rinnsale aus warmem Blut, ein dunkles, ein großes Tier über dir. Tagsüber gelang es dir, deine Beschämung in Ärger zu verwandeln, das konnte doch nicht wahr sein. Es war dir peinlich vor dir selbst, dass dir dies nachts nicht glückte, du dir immer weniger Mühe gabst. Es dämmerte, als Roland Möllrich vor dir stand, du konntest ihn kaum noch erkennen.

Dabei blieb es. Er drehte sich um, verschwand aus dem Wäldchen, du hörtest sein Moped anspringen. Du hobst die Zweige zu deinen Füßen auf, warfst sie zu den anderen in den Korb und gingst nach Hause. Nach den Ferien sah er dich nicht an. Du wusstest, es würde nicht dabei bleiben. Ein paar Tage später fandest du den ersten Zettel in deiner Mappe. Eine hastig hingeschmierte Bengelhandschrift. Die Botschaft schien gar nicht dich zu meinen, wie alle weiteren auch, es beruhigte dich irgendwie. HEUTE ABEND AN DER KUHKOPPEL. Darunter, größer, das Menetekel. R. M. Es gefiel dir nicht. Es verdiente dein Misstrauen, du glaubtest nicht, dass eine Fremdbezeichnung eine Eigenbezeichnung werden könne, das wäre dir nie eingefallen. Aber ein paar Stunden später warst du da, und er war auch da, und du staunst höchstens darüber, dass es eine Zeit gab, in der du genau wusstest, was ›heute Abend‹ bedeutet.

Natürlich war er dein Erster. Wer sonst. Das hatte nichts mit Romantik zu tun. Natürlich wusste er das. Ersteres. Es tat weh, unverhofft und anhaltend. Du hättest fast gejubelt, wäre Jubeln etwas gewesen, was dir leichtfiel. Nicht darüber, dass du ihn in dir hattest. Du. Ihn. Sondern ihn, den Schmerz, den körperlichen, den fremden Schmerz, wie das plötzliche Wissen um die Existenz eines anderen, echteren Bruders, die du bis dahin nicht für möglich gehalten hättest. Die du nicht selber erschaffen hast. Ein Bruder, der aus dem Nichts kam. Der dich mitnehmen würde dorthin.